Nicht eine Person mehr hätte am Mittwochabend in dem brechend vollen Saal des Kulturzentrums Hans Bauer Platz gefunden. Im Rahmen der Weidener Literaturtage stellte die Autorin und Journalistin Christine Ascherl ihr gerade erschienenes Buch „Jüdische Familien – Schicksale hinter den Stolpersteinen in Weiden in der Oberpfalz“ vor und war sichtlich ergriffen, wie viele Leute es zu ihrer Veranstaltung zog. „Ich bin total überwältigt, das hätte ich nie gedacht,“ gestand die Autorin. Zusammen mit Dr. Sebastian Schott, Historiker im Stadtarchiv, hat Ascherl die Lebensgeschichten der rund 200 Weidener Juden recherchiert und in einem Buch zusammengestellt.
Die Doktorarbeit von Schott und dessen intensive Recherche seien Grundlage zu ihrem Buch, wie Ascherl ausführte. Sie habe es für nötig erachtet, dass die vielen Artikel über die Stolpersteinverlegungen nicht nur digital umherschwirrten oder im Altpapier landeten. Sie wollte den Stolpersteinen ein Gesicht geben. Seit der ersten Stolpersteinverlegung 2022 für die Familie Kupfer habe sie sich, so Moderator und Kulturjournalist Stefan Voit, „gefühlt in alle Archive der Welt reingefuchst“. Diese Arbeit sei wichtig, denn „die Zeit der Zeitzeugen geht zu Ende, es beginnt die Zeit der Erinnerungskultur.“
Die Kunstaktion Stolpersteine sei durchweg gut aufgenommen worden, vor allem von den Schulen, begeisterte sich Schott. Drei Steine gebe es noch zu finanzieren, ein Stein kostet 120 Euro. Hierzu würden noch Spenden benötigt.
Ascherls Buch ist eine bewegende Sammlung der Schicksale der rund 40 jüdischen Familien in Weiden, in der sie sich fragt: Wer waren diese Menschen und was ist aus ihnen geworden? Unermüdlich hat die Autorin hier neben Interviews mit Überlebenden auch bisher unveröffentlichte Briefe zusammengetragen, sowie Fotos und internationales Archivmaterial, das bisher nicht zugänglich gewesen war. „Die Digitalisierung alter Dokumente, die Dokumentationswut der Nazis, und vor allem die überwältigende Hilfsbereitschaft der jüdischen Gemeinden international, allen voran in Israel, maßgeblich waren für den Erfolg meiner Nachforschungen“, erzählte Christine Ascherl den Zuhörern. Auch die „oral history“, also die mündliche Überlieferung und Aufzeichnung von Gesprächen der Überlebenden und deren Nachkommen sei von unschätzbarem Wert. In kurzen Kapiteln zusammengefasst, und mit klarer Erzählweise vermittelt Ascherl in ihrem Buch also die Geschichten dieser knapp 200 Menschen, von denen die meisten in Vernichtungslagern der Nazis umkamen.
Das Phantom in den Archiven
So erzählt sie zum Beispiel die Geschichte von Justin Kohner, der als 20-jähriger Widerstandskämpfer (Deckname „Tintin“) in die französische Résistance ging, um 1945 mit der US-Armee in seine Heimat wiederzukehren. Hier ermittelte er gegen die Beteiligten an der Reichspogromnacht 1938, in der seine Eltern und Bruder Schreckliches erlitten.
„Justin war immer ein bissl ein Phantom,“ so Ascherl. Sebastian Schott sei schon bei seiner Doktorarbeit aufgefallen, dass bei den Verhören der Nazis in Weiden immer ein Kohner dabei gewesen war. Die Spuren verloren sich aber. Die Familie lebt heute in Frankreich, niemand habe je über den Justin gesprochen, bis die Enkelin, selbst Historikerin, recherchierte und dabei auf die Vergangenheit des Mannes gestoßen war.
Ein Packerl, das 80 Jahre lang ungeöffnet bleibt, darauf harrend, dass der Adressierte es irgendwann doch noch überreicht bekommt. Eine sensationelle Geschichte. Ascherl erfuhr von Werner Friedmann, dass er seit den Neunzigern ein Paket für die Kinder des Ehepaares Heimann in Verwahrung habe. Diese Mitteilung des jüdischen Vorsitzenden der GCJZ gab ihr den Anstoß, nach den Kindern zu forschen. „Werners Nichte lebt in Tel Aviv und hat sich in einem Forum für Hinterbliebene nach dem Verbleib der Heimann-Kinder erkundigt. Die hatten alle ganz schnell Namen parat, der Theo hieße jetzt Daniel, und lebe hier in Tel Aviv. Das war irre“, sagte Ascherl.
Daniel Heimann, der 99-jährige Enkel des Glasfabrikanten Adler, lebt in Tel Aviv. Ihn hat Christine Ascherl 2024 besucht, um seine unglaubliche Geschichte zu dokumentieren und ihm die kostbare Fracht zu überreichen: Heimans Mutter Elisabeth hatte es 1942 vor ihrer Deportation geschafft, ein Paket für ihren Sohn einer Vertrauten zu überlassen. Während Elisabeth und ihr Mann Max ihre Kinder knapp vor Kriegsausbruch ins Ausland in Sicherheit bringen konnten – Theo, nach Palästina, seine Schwester mit dem „Kindertransport“ nach England – schafften die Eltern es trotz verzweifelter Versuche nicht, sich selbst zu retten. Nach der Deportation nach Polen verliert sich ihre Spur in den Vernichtungslagern im Osten. Was bleibt, ist ein Paket voller Erinnerungen: 50 Fotos, Zeugnisse, Eheverträge und Zeitungsartikel über die Glasfabrik des Großvaters Adler. Die Familie kommt im Juli zur Verlegung des Stolpersteins nach Weiden.
Vom Buch zum Film?
Diese und viele weitere Lebensgeschichten hat Ascherl zusammengetragen. Dabei soll das Buch neben den traurigen Gefühlen durchaus auch Mut machen und die Zivilcourage und die große Überlebensstärke der Menschen von damals vermitteln.
Und zum Schluss hatte sie noch eine Überraschung. Wolfgang Bäumler von der Firma Vantage Film aus Weiden sei auf der Berlinale ein Flyer in die Hand gedrückt worden. Darin stand, dass die Geschichte von Daniels Packerl wohl verfilmt werde, freute sich Ascherl. Wolfgang Bäumler meinte dazu: „Wir hatten heute morgen tatsächlich zufällig den Filmemacher für genau dieses Projekt im Haus, der bei uns das Equipment getestet hat. Es war schon ein großer Zufall, dass das am selben Tag passiert, an dem Christine Ascherl ihr Buch den Weidenern vorstellt.“
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