Den Koalitionsvertrag hält der Politologe Timo Lochocki für „total schwammig“. Ein Problem sieht er darin allerdings nicht: „Wenn die entscheidenden Leute miteinander ein gutes Arbeitsverhältnis haben, dann kann diese Koalition viel gestalten.“ Das stärke die Bedeutung der handelnden Personen. „Ich würde sagen, die Wirkmacht der vier bis fünf entscheidenden Leute in einer Regierung war niemals größer.“

ntv.de: Schuldenbremse, keine Kompromisse in der Migrationspolitik, möglicherweise eine Rückkehr zur Atomkraft. Kann es sein, dass Friedrich Merz im Wahlkampf sehr viele Erwartungen geweckt hat, von denen immer klar war, dass er sie enttäuschen wird?

Timo Lochocki: Das kann man so sehen. Aber im Wahlkampf hat die Union auch viele offene Aussagen gemacht, die durchaus Spielraum für andere Interpretationen offengelassen haben.

Timo Lochocki ist Politologe, hat als Wissenschaftler und Politikberater gearbeitet und während der Covid-19-Pandemie das Referat Strategische Planung im Gesundheitsministerium geleitet. Jetzt ist er Visiting Fellow am European Council on Foreign Relations.

Timo Lochocki ist Politologe, hat als Wissenschaftler und Politikberater gearbeitet und während der Covid-19-Pandemie das Referat Strategische Planung im Gesundheitsministerium geleitet. Jetzt ist er Visiting Fellow am European Council on Foreign Relations.

(Foto: privat)

Über die Schuldenbremse sagte er beispielsweise im November, das sei „ein technisches Thema, das kann man so oder so beantworten“.

Aber es stimmt, beim Bürger kam etwas anderes an. Da blieb die Botschaft hängen, dass die Schuldenbremse nicht verändert wird. Ich halte beides für möglich: Man kann der Union vorwerfen, die Wähler betrogen zu haben. Und man kann ebensogut sagen, die Union hat vage genug formuliert, um sich nicht festnageln zu lassen. Ich glaube aber, dass das Gefühl der Enttäuschung nicht so sehr an einem konkreten Thema liegt.

Woran liegt es dann?

Eher daran, dass die Union nicht wirklich zu erkennen ist. Es gibt nur wenige Punkte, von denen man knallhart sagen kann: Das waren echte Kernanliegen der Union, hier hat sie geliefert. Einer dieser Punkte ist die Migrationsfrage. Dort hat sich die Union doch sehr deutlich durchgesetzt. Fast alle der Forderungen, die CDU und CSU in den vergangenen drei Jahren aus der Opposition heraus gestellt haben, um die Migration durch nationale Maßnahmen zu begrenzen, konnte sie im Koalitionsvertrag durchsetzen. Das ist nicht wenig, da sind die nationalstaatlichen Möglichkeiten weitestgehend ausgereizt.

Im Trendbarometer vom vergangenen Dienstag sagen 60 Prozent der Deutschen, Merz sei als Bundeskanzler ungeeignet. Eine vergleichbare Umfrage für Olaf Scholz gibt es nicht, aber der Eindruck drängt sich auf, dass Merz mit Umfragewerten startet, für die Scholz drei Jahre Ampel gebraucht hat.

Ja, den schlechten Ruf, den die Ampel am Ende hatte, den hat die Union schon jetzt. Die wenigen Versprechen, die Merz gemacht hat, waren semantisch nicht durchhaltbar. Aber er konnte auch noch nirgends liefern – da Merz noch nicht Kanzler ist, hat er natürlich noch keinen Erfolg vorzuweisen. Jetzt startet die Union von sehr weit unten.

Forsa sah die Union am Dienstag bei 25 Prozent.

Vielleicht ist dieser Start von unten gar nicht so dramatisch, denn eigentlich können sie nur noch besser werden. Den Bürgern ist doch weniger wichtig, wie die Koalitionsverhandlungen gelaufen sind, sondern dass solide Politik gemacht wird. In meinen Augen wird sich die Koalition daran messen lassen müssen, welche Reformen sie in den nächsten ein, zwei Jahren auf die Kette kriegt, und ob das Binnenklima in der Regierung funktioniert. Wenn die Koalition ins Rollen kommt, ohne sich groß zu verhaken, dann glaube ich, ist die Bevölkerung bereit, die Vorstellung von Friedrich Merz als Bundeskanzler neu zu prüfen.

Die Koalition hat sich vorgenommen, nicht so zu streiten wie die Ampel. Allerdings ist auch die Ampel mit guten Vorsätzen gestartet.

Das Binnenklima wird die absolute Kernfrage dieser Koalition sein – sehr viel stärker als der Koalitionsvertrag. Die Ampel ist ja nicht an ihrem Koalitionsvertrag gescheitert, sondern daran, dass er den Realitäten nicht standgehalten hat. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fehlten der Ampel 60 Milliarden Euro und damit die finanzielle Grundlage für ihre Pläne. Eine Regierung ist dann gut, wenn sie mit Krisen gut umgehen kann.

Wird Schwarz-Rot das gelingen?

Sie haben sich zumindest mit den Grundgesetzänderungen die nötige Finanzierungsgrundlage geschaffen. Dieser Koalitionsvertrag hat etwas sehr Paradoxes an sich: Inhaltlich ist er total schwammig. Es ist eine riesige, unsortierte Werkzeugkiste, in die man reingreifen und sich bedienen kann. Aber damit schafft er eine Grundlage, auf der man aufbauen kann. Wenn die entscheidenden Leute miteinander ein gutes Arbeitsverhältnis haben, dann kann diese Koalition viel gestalten. Deshalb betont der Koalitionsvertrag, in dem es eigentlich um Inhalte gehen sollte, die zentrale Bedeutung der handelnden Personen. Ich würde sagen, die Wirkmacht der vier bis fünf entscheidenden Leute in einer Regierung war niemals größer. Kanzler, die entscheidenden Minister und die Fraktionsvorsitzenden – auf sie wird es mehr denn je ankommen.

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Klassischerweise vermissen Medien in Koalitionsverträgen den „großen Wurf“, oder sie bemängeln, dass die Politik sich „vor Zumutungen gedrückt“ habe. Aber ist dieser Vorwurf hier nicht gerechtfertigt? Mütter-Rente, Agrar-Diesel, Pendlerpauschale, Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie – alles Steuergeschenke, die anderswo fehlen.

Na ja, es ist jetzt schon klar, dass die normative Kraft des Faktischen bald einschlagen wird. Wir müssen davon ausgehen, dass die deutsche Wirtschaft für die nächsten zwei, drei Jahre kaum noch wachsen wird. Wir werden eine starke Inflation haben, im schlimmsten Fall einen globalen Handelskrieg. Dazu kommt der außenpolitische Druck. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird diese Regierung irgendwann sagen: „Oha, die Lage hat sich fundamental geändert; wir müssen unsere Pläne kritisch prüfen.“ Dann wird die Koalition den nötigen Reformen nicht ausweichen können.

Was sind das für Reformen, die die Koalition hinkriegen muss?

Das Naheliegende ist natürlich eine Einkommensteuerreform. Auch die vorliegenden Vorschläge für eine Reform der Unternehmensbesteuerung gehen nicht weit genug. Zur Refinanzierung der notwendigen Entlastungen bräuchte man eigentlich eine Erbschaftssteuerreform. Insgesamt brauchen wir eine riesige Umverteilung von unproduktivem Kapital hin zu produktivem Kapital. Da wir nun sehen, wie die USA als Exportmarkt wegbrechen, brauchen wir eine Stärkung der deutschen und europäischen Binnennachfrage. Das wäre die fundamentale Reform des deutschen Wirtschaftsmodells. So etwas ist im Koalitionsvertrag nicht mal im Ansatz angelegt.

Der zweite Elefant im Raum ist die Wehrpflicht. Ohne die wird es nicht gehen. Das wird für die neue Regierung noch ein riesiges Thema werden. Auch die nukleare Frage wird auf die nächste Regierung zukommen.

Die Frage europäischer Atomwaffen.

Aktuell geht die Tendenz in die Richtung, dass man sich an die Franzosen anlehnen möchte. Ich halte das für eine kuriose Vorstellung – wir gehen weg von den USA, weil die gerade dabei sind, ein autokratisches System zu werden, und wollen sie durch die Franzosen ersetzen, denen nach den nächsten Präsidentschaftswahlen das gleiche Schicksal drohen könnte.

Es gibt immer noch die Möglichkeit, dass Marine Le Pen nicht Präsidentin wird. Oder, falls sie nicht antreten darf, ihr Parteichef Jordan Bardella.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person aus dem Rassemblement National 2027 in den Élysée-Palast einzieht, liegt vielleicht nur bei 30 oder 40 Prozent. Aber würde man in ein Flugzeug steigen, das mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt? Die gleiche Frage stellt sich bei der nuklearen Abschreckung: Wie kann man nukleare Abschreckung in Europa organisieren, ohne von den Franzosen und den Amerikanern abhängig zu sein?

Mit den Briten?

Die haben daran höchstwahrscheinlich kein Interesse. Der beste Fall wäre eine gesamteuropäische Lösung, bei der die Franzosen oder die Briten ihre Nuklearstreitkräfte unter einen europäischen Oberbefehl stellen und wir gemeinsam die neuesten Systeme finanzieren. Allein, das ist sehr unwahrscheinlich. Daher ist aus meiner Sicht die sinnvollste Lösung, dass die nordeuropäischen und mittelosteuropäischen Staaten eine gemeinsame nukleare Abschreckung aufbauen. In meinem Buch „Deutsche Interessen“ habe ich diesen Weg einer „Nuklear-Hanse 2.0“ ausbuchstabiert.

Was sollte die Groko darüber hinaus angehen?

Die Stärkung der Resilienz unserer liberalen Demokratie. Die dafür nötige Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und andere Themen haben wir ja schon vor der Wahl besprochen.

Im Koalitionsvertrag steht von alldem nichts.

Ich glaube, man muss es so sehen: Löst der Koalitionsvertrag ein Problem? Eher nein. Schafft er weitere Probleme? Auch eher nicht. Das ist die eigentlich gute Nachricht.

Markus Söder hat gesagt, die nächste Bundesregierung sei „die letzte Patrone der Demokratie“, soll heißen: Wenn Schwarz-Rot scheitert, droht die Machtübernahme der AfD. Teilen Sie diese so zugespitzte Befürchtung?

Das ist ein bisschen überspitzt. Ich glaube, die Rahmenbedingungen für eine Reformkoalition sind sehr, sehr günstig: Die Schuldenbremse ist reformiert, das Sondervermögen steht bereit. Sollten weitere Grundgesetzänderungen notwendig werden, müsste die Union mit der Linkspartei sprechen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass es dann auch im Bundestag eine konstruktive Mehrheit gibt – im Bundesrat haben die beiden Länder mit Beteiligung der Linken den Grundgesetzänderungen ja auch zugestimmt.

Auch im weltweiten Vergleich steht Deutschland extrem gut da. Um es mit einem Bild zu sagen: Deutschland liegt im Krankenhaus, weil es sich den Knöchel verknackst hat. Jetzt müssen wir in die Ergotherapie und schimpfen darüber. Aber andere Länder – zum Beispiel die Franzosen oder die Amerikaner – haben sich die Beine gebrochen oder sind komplett gelähmt. Wie ich in „Deutsche Interessen“ beschreibe, steht Deutschland viel, viel besser da, als wir glauben. Es gibt wahrlich Grund zu Optimismus!

Dann haben wir noch weitere Patronen?

Es wird auch nach der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit der demokratischen Fraktionen geben, selbst wenn die AfD dann bei 25 Prozent stehen sollte. Die entscheidende Frage ist eine andere: Hat die Union nach dieser Koalition noch Lust, sich von der AfD fernzuhalten? Man müsste Söders Satz umformulieren: Diese Koalition entscheidet, ob die Union weiterhin glaubt, dass sie ihr parteipolitisches Überleben in der demokratischen Mitte gewährleisten kann.

Mit Timo Lochocki sprach Hubertus Volmer