Helen Herrmannsdörfer bezeichnet sich selbst als „Lese-Nerd“. Ein Glück für die Kinder der Grundschule Windach am Ammersee, denn dank ihrer Grundschullehrerin haben sie am 17. Juli beim 8. White Ravens Festival der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in der Münchner Blutenburg ein Date mit Sabine Bohlmann – sie ist eine der angesagtesten Kinderbuchautorinnen Deutschlands, die mit Titeln wie „Frau Honig“ oder „Willow“ eine große Fangemeinde hat.
„Die Kinder freuen sich schon auf die Lesung, sie wollten im Vorfeld alles wissen, haben sich Bücher ausgeliehen, sogar die Lesemuffel“, sagt Herrmannsdörfer, die bereits zum zweiten Mal beim Festival dabei ist. Sie wünscht sich, dass der Funke überspringt und auch Kinder, für die das Lesen eine Mühsal ist, spüren: „Es gibt Stoffe, für die sich mein Kampf lohnt.“
Weltliteratur im Klassenzimmer
Alle zwei Jahre lädt die IJB ein knappes Dutzend Autorinnen und Autoren aus aller Welt zu dem Kinderbuch-Festival nach München. Nach dem Kickoff am 13. Juli touren sie vier Tage lang zu Schulen in ganz Bayern: nach Augsburg, Würzburg, Regensburg, aber auch nach Laufen, Waldsassen oder Erlenbach am Main. „Wenn in einer Kleinstadt jemand aus Finnland oder Amerika liest, ist das für Kinder und Jugendliche ein nachhaltiges Erlebnis“, beschreibt IJB-Direktorin Christine Raabe das Konzept. Jede Kultur habe andere Erzähltraditionen, und gerade noch nicht ins Deutsche übersetzte Autorinnen – wie in diesem Jahr Irene Sarmiento von den Philippinen – könnten Brücken zur Lebenswelt von Kindern in anderen Ländern bauen.
Politik trifft Kinderbuch: Geschichten, die nicht weichzeichnen
Das ist dann nicht immer eine heile Welt. Selten hat das Weltgeschehen ein White Ravens Festival – benannt nach der jährlich von der IJB vergebenen Auszeichnung für innovative Kinderliteratur – politisch so aktuell gemacht, wie in diesem Jahr: Beim US-Amerikaner Abdi Nazemian geht es um die Situation queerer Menschen im Iran und in den Vereinigten Staaten.
Die Niederländerin Martine Letterie schreibt für Grundschulkinder über die Judenverfolgung im NS-Staat, dem Thema Rechtsextremismus in Deutschland widmet sich Johannes Herwig. Und Sachbuchautorin Anja Reumschüssel erzählt in ihrem Romandebüt „Über den Dächern von Jerusalem“ den Nahost-Konflikt für Jugendliche.
„Viele von ihnen verstehen nicht, warum in der Region seit Jahrzehnten gekämpft wird“, begründet die Journalistin die Themenwahl. Es gebe in dem Konflikt „verschiedene Wahrheiten, die fast alle ihre Berechtigung haben“.
Lesen als Lebenshilfe
Darüber zu schreiben, sei eine komplexe und emotionale Gratwanderung, die sich mit den Mitteln des Romans besser bewältigen lasse als mit einem Sachbuch. Grundsätzlich gibt es für Reumschüssel keine Tabuthemen. Jugendliche hätten in ihrer Familie, in der Schule und in ihrem Leben „schon einiges durchgemacht, viele von ihnen mehr, als sie hätten erleben dürfen“, sagt sie. Ein gutes Buch bereite sie im Idealfall auf den Umgang mit schwierigen Themen im eigenen Leben vor.
Grundschullehrerin Herrmannsdörfer kann das bestätigen:
„Meine eigene Kindheit war nicht einfach, manche Antworten auf meine Fragen habe ich in der Welt der Bücher gefunden.“
Gut geschriebene Kinderliteratur könne ein Rückzugsort und ein Wegweiser sein, der Kindern zeige, wie sie mit dem Leben umgehen könnten.
White Ravens Festival 2025: Wie Kinderliteratur stark macht
Das ist – trotz aller Konkurrenz aus der virtuellen Welt – noch immer die große Stärke von Kinder- und Jugendliteratur, findet IJB-Direktorin Raabe: „Sie schafft Räume, die es in Wirklichkeit nicht gibt, sie ermächtigt Kinder zur Autonomie, sie hilft ihnen, herauszutreten aus ihrer Welt, die oft von Erwartungen geprägt ist – das ist bestärkend und gut.“
Beim Auftakt des White Ravens Festival am Sonntag (13. Juli) kann das junge Publikum unter den alten Bäumen im Schlosshof der Blutenburg bei Lesungen, Workshops und Schreibwerkstätten etwas von diesem Zauber einatmen.