Jason Isaacs und Gillian Anderson als Moth und Raynor Winn in der Verfilmung von »Der Salzpfad« (Foto: DCM Film Distribution GmbH)
Ein Millionenbestseller steht unter schweren Verdacht, denn wie der Observer berichtet, sollen zentrale Angaben in Raynor Winns »Der Salzpfad« nicht der Wahrheit entsprechen. Die britische Zeitung wirft der Autorin vor, wesentliche Fakten über ihre Lebensgeschichte verfälscht zu haben. Ein Betrug am Leser?
Inhaltsübersicht dieses Beitrags
Was die Observer-Journalistin herausgefunden haben will
Drei Bücher hat Raynor Winn bislang geschrieben (Foto: Birgit-Cathrin Duval)
Der weltweite Bestseller »Der Salzpfad« erzählt die Geschichte eines Ehepaars, das durch eine missglückte Investition in das Unternehmen eines Freundes Haus und Vermögen verliert. Zusätzlich erhält der Mann die Diagnose einer tödlichen Nervenkrankheit. Aus der Verzweiflung heraus wandern die beiden den South West Coast Path entlang – und finden durch die heilende Kraft der Natur zu neuer Hoffnung und sogar gesundheitlicher Besserung.
Die detaillierte Recherche von Chloe Hadjimatheou zeichnet ein ganz anderes Bild der Geschichte. Wie die Journalistin berichtet, heißt Raynor Winn in Wirklichkeit Sally Walker und ihr Mann nicht Moth, sondern Tim Walker. Eine Frau namens Ros Hemmings habe der Observer-Reporterin erklärt, sie habe »jahrelang auf diesen Anruf [der Zeitung] gewartet«.
Der Grund: Hemmings behauptet, Sally Walker habe in den 2000er Jahren als Buchhalterin in der Immobilienfirma ihres verstorbenen Mannes gearbeitet und dabei systematisch Geld veruntreut. »In etwa 64.000 Pfund hatte Raynor Winn über die vergangenen Jahre geklaut«, zitiert die Zeitung Hemmings. Nach der Entdeckung sei Walker festgenommen worden, habe aber das Erscheinen bei der Polizei am nächsten Tag verpasst: »Sie war verschwunden.« Wie sich herausstellte, war sie nach London geflohen, um Hilfe bei einem entfernten Verwandten zu suchen.
Die andere Version des Hausverlusts
Laut dem Observer-Bericht bot ein entfernter Verwandter von Tim Walker der Familie 100.000 Pfund, um die angeblich veruntreuten Gelder zurückzuzahlen und eine Strafverfolgung zu vermeiden. Das Darlehen sei mit 18 Prozent Zinsen jährlich »auf Abruf« gegen das Haus der Walkers abgesichert gewesen. Als das Geschäft des Verwandten später zusammenbrach, sei das Darlehen an zwei Männer übertragen worden, die es eintrieben.
Wie die Zeitung unter Berufung auf Gerichtsdokumente berichtet, erklärte der Verwandte vor Gericht: »Der Zweck des Darlehens ist klar: Es war erforderlich, um eine kriminelle Anschuldigung gegen Mrs. Walker beizulegen.« 2012 hätten die neuen Gläubiger eine Rückzahlung von über 150.000 Pfund gefordert. Als die Walkers nicht zahlen konnten, sei das Haus 2013 zwangsversteigert worden.
Zweifel an der Krankheitsdiagnose
Auch die zentrale Säule der Geschichte – Tim Walkers angebliche Diagnose mit kortikobalsaler Degeneration (CBD) – stellt der Observer in Frage. Wie die Zeitung berichtet, befragte sie neun Neurologen und CBD-Spezialisten zu Walkers Fall. Alle äußerten sich skeptisch über die angegebene Krankheitsdauer von 18 Jahren bei gleichzeitig fehlenden akuten Symptomen.
»Ich wäre sehr skeptisch, dass es sich um kortikobalsale Degeneration handelt. Ich habe nie jemanden betreut, der so lange gelebt hat«, zitiert der Observer Professorin Michele Hu von der Universität Oxford. Die typische Lebenserwartung nach CBD-Diagnose beträgt sechs bis acht Jahre. Ein anderer Neurologe erklärte der Zeitung, Walkers Krankheitsgeschichte »bestehe nicht den Schnüffeltest«.
Weitere brisante Details
Der Observer berichtet von weiteren Unstimmigkeiten: Die neue Besitzerin des ehemaligen Walker-Hauses habe nach dem Kauf »einen Strom von Briefen« erhalten, die an Sally und Tim Walker adressiert waren – unbezahlte Rechnungen, Kreditkarten und Mahnungen von Inkassobüros. Gerichtsakten zeigten mindestens fünf Urteile gegen die Walkers zwischen 2011 und 2014.
Besonders brisant: Wie die Zeitung herausfand, besitzen die Walkers offenbar noch immer ein Steinhaus in Südwestfrankreich, das sie 2007 gekauft haben. Im Buch behauptet Winn jedoch, das Paar habe nach dem Hausverlust »keine andere Option« gehabt, als in Großbritannien »wild zu zelten«.
Die Autorin wehrt sich vorsichtig
Raynor Winn reagierte über ihre Anwälte auf die Vorwürfe und bezeichnete den Observer-Bericht als »höchst irreführend«. »Der Salzpfad legt die physische und spirituelle Reise offen, die Moth und ich geteilt haben«, ließ sie erklären. Die Produzenten der Verfilmung mit Gillian Anderson und Jason Isaacs teilten mit, zum Zeitpunkt der Optionierung seien keine Vorwürfe gegen das Buch bekannt gewesen. Das Timing der Observer-Enthüllung ist für die Filmvermarkter denkbar ungünstig: Am 17. Juli startet »Der Salzpfad« in den deutschen Kinos. In Großbritannien läuft der Film bereits seit 30. Mai 2025 und spielte laut Screen Daily bereits zwei Wochen nach Start 6 Millionen Britische Pfund ein.
Die Wanderung selbst steht außer Frage
Wie der Observer ausdrücklich betont, bestreitet niemand, dass Raynor Winn und ihr Mann tatsächlich gewandert sind. »Niemand hat behauptet, dass Raynor Winn und Moth nicht auf eine physische und spirituelle Reise gegangen sind«, schreibt die Zeitung. Die 630 Meilen entlang des South West Coast Path haben sie wohl wirklich zurückgelegt.
Doch wenn es stimmt, was die Observer-Recherche nahelegt, war es weniger eine spirituelle Selbstfindungsreise als vielmehr eine Flucht vor Gläubigern und den Folgen der angeblichen Verfehlungen. Die romantische Vorstellung vom mutigen Aufbruch ins Ungewisse würde dann einer deutlich prosaischeren Realität weichen: einem Ehepaar auf der Flucht vor den finanziellen Konsequenzen eigener Entscheidungen.
Schon früher gab es Zweifel
Im literaturcafe.de hatte Birgit Cathrin Duval bereits 2023 eine Analyse der Winn-Bücher veröffentlicht. Ihre zentrale Frage: Wie konnte »Der Salzpfad« trotz seiner bescheidenen literarischen Qualität zum Millionenbestseller werden?
»Das Buch ist keine literarische Entdeckung, vielmehr ein nett geschriebenes Tagebuch einer Fernwanderung«, schrieb Duval damals. Ihre Erklärung für den Erfolg: Es seien die bewegenden Details gewesen – die konkreten, emotionalen Schilderungen von Verlust, Verzweiflung und dem Kampf ums Überleben. Details wie das Teilen der letzten Pennies für Pommes oder das wilde Kampieren zwischen Ginsterbüschen.
Die bittere Ironie der Observer-Enthüllung
Ausgerechnet diese bewegenden Details – der dramatische Verlust des Hauses, die existenzielle Not, die hoffnungsvolle Besserung der Krankheit – stehen nun unter Verdacht, zumindest teilweise konstruiert zu sein. Duval hatte bereits richtig erkannt, dass nicht die literarische Qualität den Erfolg ausmachte, sondern die emotionale Wucht der geschilderten Schicksalsschläge.
Wenn es stimmt, was die Observer-Journalistin herausgefunden hat, war die Realität deutlich profaner: kein tragisches Opfer eines betrügerischen Freundes, sondern möglicherweise eine Buchhalterin, die sich an fremdem Geld vergriffen hatte. Keine wundersame Genesung durch die Kraft des Wanderns, sondern vielleicht eine Fehldiagnose von Anfang an.
Das Timing der Observer-Enthüllung dürfte den Marketingstrategen des Films schlaflose Nächte bereiten. Just in dem Moment, wo »Der Salzpfad« am 17. Juli in den deutschen Kinos anläuft und das Publikum für die bewegende Geschichte begeistert werden soll, gerät die Glaubwürdigkeit der Vorlage ins Wanken. Eine Verfilmung zu bewerben, deren Grundlage möglicherweise auf falschen Angaben beruht, wird zur Gratwanderung.
Wahrheit als Nebensache?
Man könnte nun sagen: Na und? Die Geschichte ist trotzdem schön erzählt, die Botschaft von Durchhaltevermögen und der heilenden Kraft der Natur bleibt gültig. Viele Leser haben Trost und Inspiration in dem Buch gefunden – spielt es da eine Rolle, ob alle Details stimmen?
Doch hier liegt das Problem: »Der Salzpfad« wurde explizit als wahre Geschichte vermarktet und verkauft. Der britische Verlag Penguin Random House bewirbt das Buch bis heute als »unflinchingly honest« – schonungslos ehrlich. Millionen von Lesern haben auch hierzulande nicht nur für eine schöne Geschichte bezahlt, sondern für ein authentisches Zeugnis menschlicher Widerstandskraft.
Wie der Observer berichtet, haben Verlage von Sachbüchern, die sich später als Erfindungen herausstellten, bereits Entschuldigungen veröffentlicht und sogar Rückerstattungen geleistet. Als James Freys angeblich wahre Darstellung seiner Drogensucht »A Million Little Pieces« (Deutscher Titel: »Tausend kleine Scherben«) 2006 als teilweise erfunden entlarvt wurde, verklagte eine Gruppe von Lesern den Verlag Random House. Wie aus Gerichtsdokumenten hervorgeht, endete der Fall 2007 mit einem Vergleich: Random House zahlte an 1.729 Leser Rückerstattungen und insgesamt über 2,3 Millionen Dollar für Anwaltskosten und Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen.
Wenn die Grundlagen bröckeln
Die Glaubwürdigkeit einer Erfolgsgeschichte hängt wesentlich an ihrer Authentizität. Wer sich von Sally und Tim Walker inspirieren ließ, ihr eigenes Leben zu überdenken oder schwere Zeiten zu überstehen, könnte sich nun getäuscht fühlen. Denn wenn die Observer-Recherche zutrifft, erweisen sich die bewegenden Grundlagen der Geschichte – jene Details, die Duval als den wahren Erfolgsfaktor identifiziert hatte – als deutlich weniger inspirierend.
Wie der Observer treffend formuliert: »Die Macht einer wahren Geschichte liegt darin, dass sie wahr ist: Sie verspricht dem Leser etwas Reales darüber zu erzählen, was es bedeutet, menschlich zu sein und was möglich ist.«
Statt einer Geschichte über unverschuldetes Unglück und die Überwindung durch Willensstärke hätten wir dann eine Geschichte über die Folgen eigener Verfehlungen und geschicktes Marketing. Das ist eine ganz andere Botschaft – und eine deutlich weniger verkaufsfähige.
Die Ironie ist bitter: Ein Buch über die Wahrheit des einfachen Lebens könnte selbst auf grundlegenden Unwahrheiten basieren. Die Frage ist nun, ob Verlage, Filmstudios und vor allem die Leser bereit sind, diese Diskrepanz zu akzeptieren – oder ob der Salzpfad am Ende in einem ganz anderen Licht dasteht als dem, in dem er millionenfach verkauft wurde.
Siglinde Auberle
Video des Observers über die Vorwürfe