Wer viel liest, kennt das Problem: Irgendwann ist das eigene Bücherregal voll. Auch deshalb boomen die Bücherschränke. Jeder kann hineinlegen und herausnehmen, was er will – ganz umsonst und anonym. Angefangen hat alles Anfang der 1990er-Jahre mit einem Kunstprojekt, unter anderem in Mainz. Ein Forschungsprojekt der Johannes-Gutenberg-Universität blickt tief in den Bücherschrank.

Bücherschränke sind kein Ersatz und keine Konkurrenz für Buchhandlungen, denn alle Bücher sind gebraucht. Dafür kann jeder hineinstellen und sich nehmen, was er will – und sich überraschen lassen.

Bücherschrank in der Öffentlichkeit

Bücherschränke bieten Selbstbedienung für Leseratten

Vom Stromschaltkasten zur offenen Bibliothek

Doch wer hat den Bücherschrank erfunden und warum? Die Idee für den ersten Bücherschrank stammt von den amerikanischen Künstlern Michel Clegg und Martin Guttmann. Anfang der 1990er Jahre starteten sie unter anderem in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz ein Kunstprojekt. Sie funktionierten ausgediente Stromschaltkästen zu offenen Bibliotheken um.

Schnell fand die Idee großen Zuspruch. In vielen anderen Städten gab es plötzlich auch kleine Bibliotheken auf dem Bürgersteig, mal in einem rollenden Regal, mal in einer alten Telefonzelle. Der Bücherschrank ist ein Phänomen und kommt an.

Ein alter Stromverteilerkasten wurde zu einem Bücherschrank umgebaut. In der „Offenen Bibliothek“ der Stadt Mainz kann man Bücher abgeben und kostenlos mitnehmen.

Ein alter Stromverteilerkasten in der Mainzer Neustadt, der zu einer „Offenen Bibliothek“ umgebaut wurde.

Weniger aktuelle Bestseller als romantische Schmöker

Eine persönliche, nicht repräsentative Stichprobe zeigt: Aktuelle Literatur findet man im Bücherschrank weniger. Martin Suters „Wut und Liebe“, derzeit auf einem der höheren Plätze der Spiegel-Bestsellerliste, war zumindest nicht dabei. Dafür aber mehrere Romane der britischen Schriftstellerin Rosamunde Pilcher.

Das hat einen Grund, sagt Anke Vogel vom Institut für Buchwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Univerität in Mainz im Gespräch mit SWR Kultur. Sie hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit den Bücherschränken beschäftigt. Sie sagt: „Es ist oft so, dass die Bestseller ganz schnell verschwinden.“

Eine Besonderheit der Bücherschränke ist auch der Überraschungseffekt. Man weiß vorher nie, was drin ist. „Es ist auch eine Trüffeljagd. Man kommt an den Schrank und findet Schätzchen“, so Anke Vogel. „Das kann was ganz Aktuelles sein, wenn jemand viel Bücher kauft und wieder loswerden will. Das können auch alte Schätze sein, wenn jemand das Bücherregal der Oma aussortiert hat.“

Bücherschrank und Frank Schätzing

Bestsellerautor Frank Schätzing stellt sein Buch „Die Tyrannei des Schmetterlings“ in einen Bücherschrank.

Gute Schränke, schlechte Schränke

Wer ein Buch aus dem Bücherschrank nimmt, der liest auf jeden Fall nachhaltig. Ob Lesratten dafür weniger Bücher in der Bücherei kaufen, ist hingegen schwer zu überprüfen.

Anke Vogel hat mit ihrem Team mehrere Bücherschränke in Mainz auf ihre Frequentierung und ihren Bestand untersucht: „Wir hatten einen Beobachtungszeitraum von fünf Wochen und unser bester Schrank standen nur noch 6,2 Bücher, beim Sorgenkind noch 30 Prozent. Der hatte aber auch ein Handycap, weil er an einer Baustelle stand.“

Wie viele Bücher einen neuen vorübergehenden Besitzer finden, hängt also auch von der Lage des Bücherschrankes ab. An kleinen Bahnhöfen gibt es zum Beispiel mit Glück ein Kiosk mit Getränken. Auf eine reiche Auswahl an Zeitschriften oder Literatur hofft man vergebens. Da kommt der Bücherschrank gerade recht: Ein Griff hinein und der Zug kann kommen.

Bücherschrank

Offene Bibliothek aus einem alten Stromkasten

Kinderbücher und Bücherschränke

Die Kinderbuchhandlung Nimmerland in Mainz, mehrfach ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchhandlungspreis sowie 2016 als beste Buchhandlung Deutschlands, hatte vor der eigenen Buchhandlung sogar lange ein eigenes Bücherhäuschen installiert. Bis die Buchhandlung vor einigen Jahren umgezogen ist und der neue Standort leider keinen Platz mehr bietet, um das Häuschen zu installieren.

Gründerin Susanne Lux sagt: „Als Kinderbuchhändlerin will ich Kinder zum Lesen bringen. Es war großartig zu sehen, wie die Kinder auf ihrem Nachhauseweg in dem Schrank gestöbert haben.“

Bücherschrank für Kinder

Bücherschrank für Kinder

Nachhaltig und demokratisch

Der Zukunft der Bücherschränke sieht die Mainzer Buchwissenschaftlerin Anke Vogel optimistisch entgegen: „Die Zahlen zeigen, dass die Akzeptanz dieser Bücherschränke sehr sehr hoch ist.“

Es sei eine wunderbare Möglichkeit, Lesestoff demokratisch zu verteilen: „Es fallen keine Gebühren an. Man darf den Lesestoff auch behalten und es ist natürlich sehr nachhaltig, weil Bücher nicht leer gelesen sind, wenn man sie in der Hand hatte.“