Die gebürtige Hamburgerin Sonja Anders, 59, kehrt als Intendantin des Thalia Theaters ab Sommer 2025 zum wiederholten Mal beruflich in ihre Heimatstadt zurück, wo sie als Dramaturgin auf Kampnagel begann, bevor sie 1990 zu Frank Baumbauer ans Deutsche Schauspielhaus wechselte. 1993 bis 2000 arbeitete sie unter Friedrich Schirmer am Staatstheater Stuttgart, ging dann als Dramaturgin mit Ulrich Khuon ans Thalia Theater, wo sie 2005 zur Chefdramaturgin aufstieg. Mit Khuon wechselte sie 2009 ans Deutsche Theater Berlin, wurde 2017 zur stellvertretenden Intendantin. Seit 2019 leitet sie als Intendantin das Schauspiel Hannover.

WELT: Wie ist das Gefühl, ans Thalia zurückzukehren?

Sonja Anders: Es ist aufregend. Und ich war tief berührt, als ich den Mitarbeitenden vorgestellt wurde – das ist nun auch schon wieder eine Weile her – und bemerkt habe, dass so viele Menschen noch da sind. Ich war immerhin 16 Jahre weg. Gleichzeitig hat sich in der Stadt viel verändert. Und ich habe mich verändert. Das ist es, was die Sache aufregend macht.

WELT: Es gibt also reichlich Gesprächsbedarf.

Anders: Es gibt viel zu besprechen, was die Welt betrifft, und somit auch das Theater. Die Wahrnehmung von Theater ist eine andere geworden in diesen 16 Jahren.

WELT: Auch hat das Theater wohl ein bisschen an Bedeutung verloren.

Anders: Das sehe ich nicht so. In den Medien wird das Theater heute anders rezipiert. Und wir haben ein verändertes Publikum, das über verschiedene Kanälen kommuniziert und konsumiert. Früher haben wir am Montag nach einer Premiere in die WELT geguckt oder ins „Abendblatt“. Heute könnten wir theoretisch ein Dutzend Plattformen aufrufen. Insofern sehe ich nicht, dass die Bedeutung von Theater gesunken ist, aber die Sichtbarkeit und die Form der Debatte ist eine andere. Solange die Menschen kommen und sich eine Stimmung herstellt, ist das Theater am Leben.

WELT: Das ist wahr. Aber auf Dauer ist das eine Frage der Legitimation von Theater, das ja auch von denen bezahlt wird, die nicht reingehen.

Anders: Kindergärten, Universitäten und Autobahnen werden auch von denen mitbezahlt, die sie nicht selbst nutzen. Bemerkenswert ist doch, dass mit den multiplen Krisen, die wir gerade erleben, auch das Interesse am Theater steigt. Auch in dieser Hinsicht ist Hamburg im Moment ein optimaler Ort, eine interessierte, offene, vielfältige Stadt. Das soll sich auch im Spielplan wiederfinden. Und die Politik hier weiß, dass Kultur für die Stadt wichtig ist, so wie die kulturelle Auseinandersetzung mit den Krisen. Kulturelle Bildung, die demokratiestärkend wirkt, wird anderswo oft unterschätzt.

WELT: Wie würden Sie denn die Aufgabe von Stadttheater beschreiben?

Anders: Die angestrebte Vielfalt unseres Spielplans ist ein Grund dafür, dass wir kein Motto für die Spielzeit wählen. Es geht uns um eine ganze Bandbreite an Themen, die unterschiedliche Gruppen betreffen. Die Aufgabe von Stadttheater ist auch, Menschen abzuholen, wo sie sind, unterschiedliche Haltungen zu betrachten und sich hineinzuversetzen in andere Leben. Es ist eine ziemliche Herausforderung, Alt und Jung einzuladen, Arm und Reich, Männer wie Frauen – und alle dazwischen. Wobei die Frauen ja sowieso kommen.

WELT: Das Verhalten der Zuschauer zeigt auch gesellschaftliche Trends, die sich zuspitzen. Seit jeher haben eher Frauen ausgesucht, in welche Stücke Paare oder Familien gehen. Männer gehen heute noch seltener, wie kommt’s?

Anders: Gerade tobt ein Kampf um Deutungshoheiten, auch darum, was Kunst erzählen soll und was nicht. Ich würde mich dem gerne ein bisschen verweigern und diese Kategorien öffnen und neue Narrative suchen. Jede Form der Polarisierung fordert mich geradezu heraus, die Extreme zu untersuchen und zu fragen, welche Geschichten und Schicksale dahinterstecken und was dazwischenliegt. Das ist im Moment eine gewaltige Aufgabe, nicht nur für die Kultur, auch politisch gesehen, und für jeden Einzelnen.

WELT: Die Risse, gerade die politischen, werden langsam zu Gräben …

Anders: Man merkt in vielen Unterhaltungen, dass man an Grenzen stößt. Es nützt aber nichts, auf der Stelle umzukehren. Ich hatte neulich eine Diskussion mit einer Freundin, die BSW wählte. Ich glaube, vor fünf Jahren hätte ich mich aufgeregt und abgewendet. Diesmal haben wir darüber gesprochen, über Russland-Politik und Migration.

WELT: Das Thalia Theater hat sein Programm in den vergangenen Jahren immer weiter aufgefächert. Glauben Sie, man braucht diese Bandbreite, oder wäre es besser, sich stärker auf die Kunst zu konzentrieren?

Anders: Ich finde die Bandbreite wichtig. Das Repertoire und der Diskurs, auch die Festivals, machen heute Theater aus. Daher werden wir die Lessingtage auch weiterführen. Gleichzeitig bin ich ein Mensch, der die Dinge gerne ordnet für die Zuschauenden. Ich mag Reihen, Rituale, ich mag Festivals mit klarem Programm.

WELT: Was planen Sie inhaltlich?

Anders: Ich werde Ihnen jetzt nicht den Spielplan verraten, den gebe ich am 11. April bekannt, aber ein kleiner Einblick nur für Sie ist, dass wir auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz mit einer Woche eröffnen werden, die durchaus Eventcharakter haben wird. Da gibt es jeden Tag ganz unterschiedliche Begegnungsformate, Konzerte und kleine Gucklöcher in Richtung Spielplan.

WELT: Bleibt das Ensemble stabil? Jens Harzer, Marina Galic und Sebastian Zimmler wechseln jetzt im Sommer ans Berliner Ensemble.

Anders: Das Ensemble wird zu einem großen Teil bleiben. Aber es gibt Veränderungen. Natürlich schlägt sich eine neue Intendanz auch im Personal wieder. Dazu gehört, dass in unserem Theater unterschiedliche Perspektiven Raum bekommen, vielfältige Geschichten erzählt werden sollen, mit ganz unterschiedlichen Menschen.

WELT: In der Theaterszene hört man Sätze wie: „Sonja Anders macht das bestimmt wie in Hannover, nur noch feministischer.“

Anders: Noch feministischer? Das geht doch gar nicht! Im Ernst, wir stellen im Theater schon lange fest, dass der Kanon allein nicht mehr zieht. Dass die Menschen Geschichten aus ihrer eigenen Welt, ihrer Lebensrealität antizipieren wollen. Darüber, wie wir miteinander leben. Und da kommt der Feminismus dann ziemlich schnell ins Spiel. Weil 50 Prozent der Bevölkerung das Thema Gerechtigkeit und Miteinander in unserer Gesellschaft als Problem betrifft. Ich würde trotzdem ungern „noch feministischer“ sagen, vielmehr finde ich, dass Zusammenhalt und nicht das Auseinanderdividieren wichtig ist. Das schließt Feminismus nicht aus, und auch nicht die Männer, die genauso feministisch sein können wie Frauen. Und die wir dabei brauchen.

WELT: Natürlich gibt es Gerechtigkeitsthemen wie die Gehaltsschere oder ungerechte Rollenverteilungen in Familien.

Anders: Keiner würde ja sagen, dass er eine ungerechte Gesellschaft bevorzugt. Die Frage ist aber, was sind wir bereit aufzugeben? Wie sehr hängen wir an unseren Bildern? Wie unbewusst sind die Ungerechtigkeiten, die wir leben? Diese bewusst zu machen, hilft schon ein Stück weit. Ich glaube, wir haben in Hannover gelernt, wie man Gerechtigkeitserzählungen mit Freude auf die Bühne bringt. Auch auf diese Weise kann Theater politisch sein: Indem es manchmal das Gelingen zeigt.

WELT: Mit politischem Theater – man denkt sofort an Brecht – ist ja meist noch etwas anderes gemeint.

Anders: Wir verbreiten sicher keine Ideologie auf der Bühne. Aber es ist auch politisches Theater, wenn Menschen sich berühren lassen und Empathie für andere empfinden. Unser gesellschaftliches Problem ist ja gerade, dass Hass und Wut legitimiert werden, durch Parteien oder Menschen. Da erweckt unser Theater hoffentlich gegenteilige Gefühle: Neugier, Irritation, Liebe.

WELT: Sie haben gesagt, Sie müssten sich auch absetzen und einen Neuanfang markieren. Werden die schmutzigen Gardinen, das ist nicht im übertragenen Sinne gemeint, im Thalia Theater auch mal wieder gewaschen?

Anders: Ich mag aufräumen, mag Veränderung und Erneuerung, auch Inspiration durch andere. Es wird ein neues Corporate Design geben.

WELT: Auch am Spielplan wird sich vermutlich etwas verändern.

Anders: Joachim Lux und ich haben durchaus Überschneidungen. Anne Lenk ist das beste Beispiel. Sie kommt mit mir als leitende Regisseurin und hat hier schon mehrere Arbeiten gemacht. Es gibt aus Joachims Zeit einfach großartige Regisseurinnen, an denen man nicht vorbeikommt. Gleichzeitig wird das Gros der Regiepositionen frisch und neu.

WELT: Gibt es auch Regisseure, die Sie vom Deutschen Theater Berlin oder aus Hannover mitbringen?

Anders: Natürlich gibt es auch Leute, die wir entdeckt haben und nun aus Hannover mitbringen. Aber ich denke auch viel darüber nach, was Europa für unseren Zusammenhang bedeutet, und möchte ganz dezidiert ein nicht-deutsches Team einmal im Jahr holen.

WELT: Da hilft ein Blick zum Schauspielhaus, wo zum Beispiel Katie Mitchell aus London regelmäßig inszeniert.

Anders: Und das ist total spannend. Es ist erfrischend und reizvoll, dass die Handschriften andere sind im Ausland.

WELT:Sie waren vor Ihrem Wechsel zur Intendantin lange Chefdramaturgin, zuletzt am Thalia und am Deutschen Theater unter Leitung von Ulrich Khuon.

Anders: Für mich war es schön, den Berufswechsel zu vollziehen. Ich fühle mich freier als Intendantin. Das hatte ich vorher nicht erwartet, dass es so viel Spaß macht, zu gestalten.

WELT: Aber Sie inszenieren weiterhin nicht?

Anders: Nein, das werde ich nicht tun.

WELT: „Liliom“ von Molnar zum Auftakt der Intendanz von Ulrich Khuon am Thalia Thater war ein großartiger, kleiner Theaterskandal. So etwas ist heute schwer vorstellbar, weil es die leicht verträumte Tradition gar nicht mehr gibt, die man erschüttern könnte.

Anders: Ich glaube, dass das Theater lange eine relativ satte Gesellschaft wachrütteln musste. Heute muss es eine wachgerüttelte Gesellschaft befrieden – oder Zusammenhänge finden, um die Menschen ins Miteinander zu bringen. Die Frage danach, welche Qualität die Literatur auf der Bühne hat, bewegt dabei meist eher Theaterfachleute und Kritiker. Das Publikum feiert ein Stück ab, weil es bewegt und einen Lebensnerv trifft, und sofort entsteht die Frage: Auf welchem Niveau lachen wir, wo bleibt die Qualität? Ich finde es sehr interessant, dass auf der einen Seite gefordert wird, die ganze Stadtgesellschaft ins Theater zu locken. Sobald man aber niederschwelliger wird, ist es auch nicht recht. Das ist dann auch eine Art Skandal.

WELT: Sie haben den Kanon angesprochen, inwiefern spielt der im Spielplan noch eine Rolle?

Anders: Das ist in der Tat die Frage. Die Stücke von William Shakespeare oder Heinrich von Kleist sind wunderbar und stabil, ich liebe sie immer noch sehr. Sie sind die großen Erneuerer ihrer Zeit gewesen, Provokateure, waren umstritten, teilweise sogar in Haft, haben aufbegehrt gegen die Herrschenden, gegen ihre Väter. Diese Energie ist noch in den Stücken, und deshalb werden sie auch weiter aufgeführt. Natürlich besetzen wir sie anders, weil unsere Gesellschaft anders aufgestellt ist, das hätten sie sicher damals auch gemacht. Aber was den Spielplan angeht, wird er gemischt sein, aus Neu, Alt und Projekt. Immer als Antwort auf unsere Zeit, und leider gerade auf echte antidemokratische Attacken.

WELT: Die sind in Hamburg nicht so stark ausgeprägt wie andernorts.

Anders: Da ist Hamburg stark, auch ein Stück weit trotzig vielleicht. In Hamburg lässt man sich nichts sagen von Menschen, die einen für dumm verkaufen wollen. Vielleicht hat Hamburg eine gewisse Resistenz, weil die Stadt stolz ist auf ihre historische Unabhängigkeit. Und die Politik agiert hier recht klug. Allerdings stehen wir damit ziemlich allein, wenn man die populistischen Umtriebe überall anschaut.

WELT:Sie meinen auch aus den USA und Russland …

Anders: Auch. Wenn Diktatoren sich zusammentun und dann noch die großen Konzerne zu nah an die Politik lassen, ist das fatal. Man kann nur hoffen, dass viele Länder in Europa, in der Welt, da nicht mitspielen. Theater sind keine Gamechanger, aber in der Lage, diese Mechanismen abzubilden und für die Menschen, die Theater besuchen, ist es wichtig, dass zumindest den Tyrannen auf der Bühne etwas entgegengesetzt wird. Shakespeare hat Typen wie Trump gekannt, kannte den Jähzorn, die Taktik und Gier dieser Menschen und hat das genial in seinen Stücken abgebildet.

WELT: Wie sehen Sie sich im Verhältnis zum Schauspielhaus, also zur traditionellen Konkurrenz?

Anders: Ich habe Karin Beier gerade erst getroffen und ihr herzlich gratuliert zu ihren aktuellen großen Erfolgen. Ich habe mir „Anthropolis“ angeschaut und muss sagen, ich bin froh über alle, die da rausgehen und sagen, Theater ist toll.

WELT: Sind Sie auch froh über jeden, der ins Schauspielhaus reingeht?

Anders: Das ist was anderes. Aber ich glaube, der Hype, den dieses Ereignis ausgelöst hat, kommt jedem Theater zugute. Natürlich denkt man über sein eigenes Profil nach, aber man kann sich nicht über Konkurrenz definieren. Da kann ich nur meiner Nase, meinem Bauch und meinen tollen Mitarbeitenden folgen und mich entscheiden, was wir erzählen wollen. Und dabei gibt es eben auch Dinge, die überschneiden sich mit dem Schauspielhaus oder mit Kampnagel.

WELT: Wie ist der Wechsel von Hannover nach Hamburg. Die beiden Städte haben ein irgendwie merkwürdiges Unverhältnis zueinander.

Anders: Hannover ist total unterschätzt, in vielem. Es ist eine schöne Stadt, die tolle Stadtviertel hat. Ich mag das Schauspielhaus Hannover, weil es eine demokratische, offene Atmosphäre hat. Ich habe dort immer gerne gearbeitet.