Sekundarschulplatz-Vergabe in Berlin
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„Wir haben im Schulsystem, zugespitzt formuliert, eine Art Notenfetischismus“
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Video: rbb24 Abendschau | 09.07.2025 | Nural Akbayir / Katarina Günter Wünsch (Schulsenatorin) | Bild: imago images/Funke Foto Services
Kürzlich haben Berliner Eltern erfahren, auf welche weiterführende Schule ihre Kinder gehen sollen. Auf eine der drei Wunsch-Schulen zu kommen, gelingt mitunter nicht mal bei einem Einser-Schnitt. Bildungsexperte Dieter Dohmen rät zur Talentorientierung.
rbb|24: Herr Dohmen, die Schulplatzvergabe für die Sekundarschulplätze in Berlin steht alljährlich in der Kritik. Gerade war es wieder so weit. Sollte Berlin daran festhalten und nachjustieren oder ist ein kompletter Neustart nötig?
Dieter Dohmen: Ein Neustart ist nicht einfach. In Berlin ist die Situation so, dass es nicht genügend Plätze gibt. Deswegen kann es vermutlich immer Härtefälle geben. Was man noch einmal prüfen sollte, ist, ob das Verfahren so wie es jetzt ist, wirklich bleiben muss. Also dass erst die Plätze für die Erstschulwünsche vergeben werden und nur wenn dann noch Plätze an einer Schule frei sind, andere zum Zug kommen können. Und auch, ob es so bleiben sollte, dass Kinder, die keine ihrer drei Wunschschulen bekommen, im Zweifelsfall sehr weit fahren müssen zu ihrer neuen Schule [Inforadio.de].
Zur Person
privat
Bildungsexperte –
Dieter Dohmen
ist Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in Berlin. Er ist Mitglied der Expertengruppe „Qualitätsinvestitionen in die Bildung“ der Europäischen Kommission.
Meist geht es in der Kritik aber auch darum, dass viele gute Schulen nur die Schüler mit dem besten Notendurchschnitt annehmen. Nun gab es kleinere Veränderungen der Senatsverwaltung. Haben die sich ausgewirkt?
Veränderungen gab es insoweit, als man die Durchschnittsnote für den Zugang zum Gymnasium auf 2,2 festgelegt hat. Das heißt zwangsläufig, dass es weniger Gymnasiast:innen geben wird. Damit steigt der Druck auf die anderen weiterführenden Schulen – die Integrierten Sekundarschulen. Dort entsteht noch mehr Übernachfrage und Schulen, die sehr beliebt sind, können sich die 1,0-Schüler:innen aussuchen. Und andere Kinder fallen ein Stück weit hinten runter. Das ist immer ein Problem, wenn es weniger Plätze als Nachfrage gibt.
Welche Kinder drohen da, hinten runter zu fallen?
Wir haben im Schulsystem, zugespitzt formuliert, eine Art Leistung- beziehungsweise Notenfetischismus. Es wird geglaubt, dass man mit externem Druck die Leistungsmotivation der Schüler fördert. Das ist aber bekanntermaßen eher weniger der Fall. In Berlin nehmen zum Teil schon Grundschüler Nachhilfe. Der wahrgenommene Druck ist unglaublich hoch. Dass das dazu führt, dass die Kinder bestmöglich gefördert werden, wage ich zu bezweifeln. Normalweise ist es so, dass wenn jemand Spaß an einem Fach hat und sich dafür interessiert, seine Motivation größer ist.
Aber natürlich braucht man im Zweifelsfall Kriterien, die den Zugang zu den Schulen regeln. Oder man macht es ganz fair und setzt komplett auf ein Losverfahren für die Schulplätze. Aber ob das am Ende zu größerer Zufriedenheit bei Eltern und Kindern führt, ist auch fraglich.
Um einen Platz an einer übernachgefragten weiterführenden Schule bekommen zu können, werden viele Berliner Grundschulkinder ab der fünften Klasse richtiggehend gedrillt. Was macht das mit dem Lernweg eines Kindes – kommen die Kinder da wieder runter, wenn sie dann an der Oberschule sind?
Das kommt darauf an, wie dort der Unterricht ist. Die Berliner Schulen sind sehr unterschiedlich. Aber es hängt in jedem Fall auch davon ab, ob das Verhältnis von Schüler:in und Lehrkraft individuell passt. Lehrer leisten erstmal Beziehungsarbeit, da muss es von der Chemie her grundlegend stimmen. Was da also mit dem Schüler passiert, ist auch sehr davon abhängig. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen in die Pubertät kommen – das hat auch Einfluss. Leistungsdruck kann dann zur Leistungssteigerung führen, wenn jemand motiviert ist. Ist der Druck negativ konnotiert, führt er im Zweifelsfall zu Frust und zu Leistungsverweigerung. In meinen Augen müsste man die Frage, wie Schule sein soll, grundlegend klären.
Man müsste weg von dem Denken, dass das Gymnasium nur was für Universalgenies ist und auch weg von der Wissensfokussierung – und hin zur Kompetenz- und Talentorientierung.
Dieter Dohmen
Stichwort Fairness bei der Schulplatzvergabe. Müssen bei der jetzigen Praxis die Kinder, die sowieso nicht privilegiert sind und die eben nicht mithilfe ihrer Eltern auf einen guten Notendurchschnitt kommen, lange Anfahrten zu im Zweifelsfall schlechteren Schulen in Kauf nehmen?
Die Festlegung einer Durchschnittsnote führt fast zwangsläufig zu einer gewissen Privilegierung, weil Kinder aus bildungsnahen Familien einen erheblichen Vorteil haben. Wer leistungsschwächer ist, fällt im deutschen Schulsystem – genau wie besonders leistungsstarke Schüler – ein Stück weit hinten runter.
Ob das dazu führt, dass die nicht so leistungsstarken Grundschüler diejenigen sind, die durchgehend hinten runterfallen, lässt sich nicht abschließend beurteilen.
Wie fair können Schulnoten dahingehend überhaupt sein?
Bei der Benotung spielt immer das Niveau der Klasse eine Rolle. Denn Schüler:innen werden immer in Relation der Leistungsstärke der Klasse bewertet. Wenn man sich dann anschaut, dass bei der Schulplatzvergabe in Berlin mitunter sogar 1,0-Schüler:innen keinen Platz bekommen, kann man schon mal fragen, ob das alles so richtig ist.
Ich denke, man sollte grundlegend darüber nachdenken, ob die Notengrenze von 2,2 für das Gymnasium wirklich richtig ist. Auch den Probeunterricht müsste man überdenken – denn den kann man immer so anlegen, dass kaum jemand durchkommt – wenn man das will.
Man könnte stärker dahin gehen zu sagen, dass Kinder eine besondere Förderung verdienen, wenn sie bestimmte Talente haben – egal ob Deutsch, Mathe, Sport oder Kunst. Man könnte auch noch weiter gehen und sagen, dass die Differenzierung in das mehrgliedrige Schulsystem bildungspolitisch falsch ist. In Deutschland ist eine Schule für alle Kinder aber meiner Meinung nach nicht umsetzbar.
Dieses Jahr hat man durch eine Notengrenze die Zahl der Schüler, die aufs Gymnasium kommen, verringert und dadurch dort den Druck etwas rausgenommen. Dafür hat man den Druck auf die Integrierten Sekundarschulen dramatisch erhöht.
Sie sagten ja, dass der Druck auf die Integrierten Sekundarschulen jetzt dramatisch gestiegen ist. Sind die Schulen denn so ausgestattet, dass sie den Druck abfangen können?
Berlin hat einen nicht unerheblichen Lehrkräftemangel und die Zahl der Quereinsteigenden hat erheblich zugenommen. Letztere sind nicht die schlechteren Lehrkräfte, aber gerade bei ihrem Einstieg sind sie oftmals nicht entsprechend vorbereitet. Denn ihre Ausbildung beginnt meist mit dem Start als Lehrkraft in der Schule. Während es sich beim Personal in den Gymnasien überwiegend um formal qualifizierte Lehrkräfte mit Lehramtsausbildung handelt, ist das an den anderen Schulen durchaus anders. Und gerade Schulen mit schwieriger Schülerschaft, also Brennpunktschulen, haben Schwierigkeiten, motivierte Lehrkräfte zu bekommen. Sie müssen sich oft mit Quereinsteigenden oder Studierenden behelfen, um die Unterrichtsversorgung überhaupt sicherstellen zu können.
Wenn es besser wäre, vor allem Gemeinschaftsschulen für alle Kinder anzubieten. Warum kann man die Schullandschaft in Berlin nicht einfach dahingehend umkrempeln?
Wenn man das versucht, werden die Eltern, die glauben, dass ihre Kinder an einem Gymnasium besser aufgehoben sind, auf die Barrikaden gehen. Das konnte man in Hamburg Anfang der 2010er Jahre sehen. Da hatte die damalige Bildungssenatorin – ohne die Abschaffung der Gymnasien zu fordern – einen Volksentscheid dahingehend verloren. Sie ist sogar zurückgetreten – obwohl sie eine gute Bildungssenatorin war.
Das ist also nicht durchzudrücken. Die entsprechenden Eltern werden die Politiker in ihrem Wahlkreis dahingehend bearbeiten, dass sie das nicht durchziehen. Und wenn es beispielsweise zu einem Volkentscheid käme, würden die bildungsnahen Eltern und Familien abstimmen gehen – und von den anderen Eltern gehen weniger oder haben im Zweifelsfall gar kein Stimmrecht, weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht haben. Das zu fordern wäre also politisch glatter Selbstmord.
Das Interview führte Sabine Priess.
Sendung: rbb|24, 08.07.2025