Fehlerhafte Datenerhebung und falsche Schlussfolgerung
Nach Ansicht von Claassen und ihren Kollegen ist diese Schlussfolgerung jedoch nicht zutreffend und die Zahl 200 eigentlich „nichtssagend“. Der Fehler liege schon im Studienkonzept: Menschen neigen dazu, höhere Häufigkeiten anzugeben, wenn sie einzelne Aspekte einer allgemeinen Frage separat einschätzen sollen – zum Beispiel, ob jemand einen Oscar gewinnt oder ob er diesen Award in bestimmten Kategorien gewinnt. Durch diesen Subadditivitätseffekt kamen in der Studie damals unrealistisch hohe Angaben zustande.
Demnach spiegelt die hohe Zahl an über 200 Essensentscheidungen keine empirische Realität wider, sondern ist ein Ergebnis dieses kognitiven Effekts, wie die MPI-Forscher erklären. So führte letztlich eine fehlerhafte Datenerhebung zu irreführenden Vorstellungen über das Essverhalten in der Wissenschaft und Bevölkerung.
„Diese Zahl vermittelt ein verzerrtes Bild davon, wie Menschen Entscheidungen über ihre Nahrungsaufnahme treffen“, sagt Claassen. „Vereinfachte Botschaften wie diese lenken davon ab, dass Menschen durchaus in der Lage sind, bewusste und fundierte Entscheidungen in Bezug auf ihr Essen zu treffen.“
Wie könnte man die wahre Zahl herausfinden?
Doch wie oft denken wir wirklich übers Essen nach? Und wie lässt sich das sinnvoll und richtig untersuchen? „Um das Essverhalten besser zu verstehen, müssen wir besser verstehen, wie genau Entscheidungen getroffen werden und was sie beeinflusst“, sagt Seniorautor Ralph Hertwig vom MPI für Bildungsforschung. „Die Erhebungsmethode ist entscheidend und prägt die Ergebnisse“, so sein Team.
Claassen und ihre Kollegen schlagen daher vor, nicht nur einfach nach dem „was“, „wann“ und „wie viel“ zu fragen, sondern solche Essensentscheidungen zuerst konkret und situationsabhängig zu definieren und erst dann mit Probanden zu untersuchen: Entscheiden wir uns zum Beispiel zwischen Salat und Pasta, zwischen einem Apfel und Tiramisu? Verzichten wir ganz auf eine Mahlzeit oder einen Gang? Entscheiden wir uns für ein vegetarisches statt ein fleischhaltiges Gericht? Und ist die Antwort eine andere, wenn wir in der Kantine oder mit der Familie essen? Wichtig sei dabei auch, nach dem „warum“ zu fragen: Heißt das Ziel „abnehmen“ oder „nachhaltig essen“?
Da es bei diesen Fragen je nach Emotion und Kontext oft mehrere Antworten gibt, die gleichzeitig erfasst werden müssen, plädieren die Forschenden dafür, unser Essverhalten über mehrere Methoden zu erfassen. Künftige Forscher könnten beispielsweise nicht nur Testpersonen über präzise Situationen befragen, sondern sie auch Tagebuch führen lassen oder über digitale Tracking-Tools wie Kameras, Kausensoren oder GPS-Sender verfolgen. Wo kauft der Mensch ein und wie sieht seine Umgebung beim Essen aus? Das würde helfen, den Kontext zu verstehen und die Ergebnisse der Fragebögen ergänzen.
Selbstverständnis hilft bei der Ernährung
Solche aussagekräftigeren Studien nachzuholen ist wichtig, betont das Team. Denn wenn Menschen ihre eigenen Essensentscheidungen besser verstehen, können sie gesunde Ernährungsgewohnheiten im Alltag besser umzusetzen und ihre selbstgesetzten Ernährungsziele leichter erreichen.
Eine eingängige, „magische“ Zahl wird es dafür aber wohl nicht geben, da sie die komplexe Realität nicht wiedergeben kann – und auch nicht hilfreich für persönliche Essensentscheidungen wäre. Denn wer sich von den möglicherweise vielen unbewussten Entscheidungen abschrecken lässt, traut sich selbst keine Entscheidung mehr zu, erklären Claassen und ihre Kollegen. Ähnlich ist dies bei Menschen, die ihre für die Gesundheit empfohlenen 10.000 Schritte am Tag nicht schaffen und sich dann stattdessen gar nicht mehr bewegen und noch ungesünder leben als ohne diese unnütze Zahlenfixierung.
So können wir zwar über Fitnesstracker und Co alle möglichen Lebensstilparameter in Zahlen fassen und uns daran orientieren, unsere Essensentscheidungen jedoch nicht. (Appetite, 2025; doi: 10.1016/j.appet.2025.107928 / Environment and Behavior, 2007; doi: 10.1177/0013916506295573)
Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
11. Juli 2025
– Claudia Krapp