Bild: Klett-Cotta
Memoir
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Cristina Rivera Garza: „Lilianas unvergänglicher Sommer“
Ein „Femizid“ ist „die Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts“. So steht es seit 2012 im Strafgesetzbuch Mexikos, wo jeden Tag zehn Femizide verübt werden. Einer davon ereignete sich vor ziemlich genau 35 Jahren, am 16. Juli 1990. Ermordet wurde damals die Schwester der Autorin Cristina Rivera Garza. Ihr ist nun das Buch „Lilianas unvergänglicher Sommer“ gewidmet, das 2024 in den USA mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie Autobiografie/Memoiren ausgezeichnet wurde.
Im Leben der mexikanischen Autorin Cristina Rivera Garza gibt es ein Trauma: der Tod ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester Liliana. Sie starb am 16. Juli 1990, ermordet von ihrem Exfreund Angél Gonzales Ramos. Er drang gegen fünf Uhr morgens in die Wohnung der gerade einmal Zwanzigjährigen ein und erstickte sie mit einem Kissen. Die Polizei kam ihm schnell auf die Spur, doch als sie ihn verhaften wollte, hatte er sich bereits abgesetzt und blieb bis heute unauffindbar.
Der Tod der Schwester – eine allgegenwärtige, schmerzhafte Erinnerung
29 Jahre dauerte es, bis Cristina Rivera Garza sich der Geschichte annahm. Der Fall war in der Familie zu schmerzhaft, um darüber zu sprechen und sich damit zu befassen, auch wenn oder gerade weil die Erinnerung an die Tote allgegenwärtig blieb. 2019 aber beantragte Cristina Rivera Garza Einsicht in die Ermittlungsakten und begab sich auf eine zeit- und nervenaufreibende Recherche, die sie von Behörde zu Behörde quer durch Mexiko City führte. Die Suche blieb ergebnislos, führte aber zum Entschluss, über die Schwester, ihr Leben und ihren Tod zu schreiben. Damit beginnt „Lilianas unvergänglicher Sommer“, mit dem Cristina Garza Rivera 2024 den Pulitzerpreis in der Kategorie Autobiografie/Memoiren gewann.
Wer I Wie I Was
Ein Versuch, die Tote zu würdigen
Zunächst und vor allem ist das Buch ein Versuch, die Tote so lebendig wie möglich zu machen und sie in all ihrer Widersprüchlichkeit zu würdigen. Eine erste Annäherung erlauben die Briefe und Tagebücher, die sie hinterlassen hat und die lange Zeit ungesichtet in ein paar Kartons im Elternhaus lagerten. Das Bild, das daraus entsteht, ist das eines sehr begabten und sensiblen Mädchens mit den alterstypischen Liebesnöten einer Pubertierenden. Dass sie im Rückblick mit ihrer Schönheit und Klugheit ein bisschen verklärt wird, liegt in der Natur der Sache.
Schon in der Schule gehörte Angél, der spätere Mörder, zu Lilianas Verehrern. Keinen ließ sie wirklich nahe an sich heran, doch er schaffte es mit Hartnäckigkeit und einfach dadurch, dass er sich nicht abweisen ließ.
Cristina Rivera Garza hat zahlreiche Freundinnen und Freunde, Kommilitoninnen und Kommilitonen ihrer Schwester aufgespürt und interviewt. Von allen, dier sich an Liliana erinnern, wird sie als eine Anführerin, als Trendsetterin, als zentrale Figur des Freundeskreises beschrieben, so sarkastisch wie liebesbedürftig, so gesellig wie zutiefst einsam. Liliana studierte Architektur. Sie war eine Frau, die in einer machistischen Gesellschaft um ihre Unabhängigkeit kämpfte, die ungebunden sein wollte und deshalb auch keine Beziehung einging. Angél wurde sie allerdings nicht mehr los, obwohl sie sich immer wieder von ihm trennte. Im Kreis der Studierenden ist er der Fremdling, blond, ungehobelt, mit Motorrad und Lederjacke, wortkarg und nicht sonderlich gebildet, misstrauisch und vor allem unendlich eifersüchtig. Cristina Rivera Garza vermutet, dass er es nicht ertragen konnte, als Liliana sich zuletzt schließlich doch ernsthaft von ihm trennen wollte.
Ein persönliches Buch – keines über Femizide in Mexiko
Cristina Rivera Garza ist nicht nur Literatin, sondern auch Soziologin und Historikerin und lehrt derzeit an der Universität Houston/Texas. „Lilianas letzter Sommer“ ist ein sehr persönliches Buch ihrer Trauer und der Erinnerung. So geht sie auch der gemeinsamen Kindheit nach, als die jüngere Schwester die bessere der beiden leidenschaftlichen Schwimmerinnen war. Zugleich aber versucht die Autorin eine Art Theorie des „Femizids“ zu entwickeln. In Mexiko werden täglich zehn Femizide verübt, die „Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts“, wie der Straftatbestand dort seit 2012 definiert wird. Zuvor hieß es verständnisvoller: „Verbrechen aus Leidenschaft“.
Der Begriff „Femizid“ hat den Vorteil, sexualisierte Gewalt gegen Frauen als tägliche Realität überhaupt erst ins Bewusstsein zu rücken. Er hat aber auch den Nachteil, jeden konkreten, besonderen Einzelfall im Allgemeinen aufzulösen. Deshalb ist „Lilianas letzter Sommer“ eben kein Buch über Femizide in Mexiko, sondern ein Buch über diese eine besondere Frau und ihre Geschichte und eine Liebeserklärung an die ermordete Schwester.
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Christne Schöniger/colourbox
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Stand vom 11.07.2025
