Von einem derart zugerichteten Polizisten hatte man bei den zahlreichen propalästinensischen Protesten noch nichts gehört. Die Interpretation der Polizei bestimmt auch die Darstellung vieler Medien. „Judenhasser treten Polizist in Klinik“, titelt die B.Z. „Eine Szene entlarvt sich selbst“, schreibt der Tagesspiegel und schildert, wie ein „Mob“ den Beamten in die Menge riss. Unter dem Eindruck dieser Meldungen reagiert auch die Politik: Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel, SPD, spricht von einem „Mordversuch“; Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) schreibt auf X, der „Angriff“ sei „nichts anderes als ein feiger, brutaler Gewaltakt“. Kurz darauf übernimmt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen. Es handele sich um einen „Angriff auf die Organe des Rechtsstaats“, erklärt ein Sprecher.

Der Vorfall in Berlin erreicht am nächsten Tag auch den Bundestag. Solche Vorkommnisse seien „leider kein Einzelfall, sondern passieren immer wieder“, sagt Deutschlands neuer Innenminister Alexander Dobrindt (CSU). „Die Polizei braucht keine Skepsis, sondern Rückendeckung durch die Politik.“

Doch die Skepsis scheint angebracht.

Ein Video, das die Rechercheagentur Forensis analysiert hat, zeigt jedenfalls ein anderes Bild als das von der Polizei dargestellte. Süddeutsche Zeitung und NDR konnten es einsehen und prüfen.

Forensis, denen das Video zugespielt wurde, ist ein gemeinnütziger Verein, seine vier fest angestellten Mitarbeiter haben ihren Sitz in Berlin. Sie beschreiben sich selbst als ein interdisziplinäres Team von Rechercheuren, die mithilfe von Videos, Tönen, 3D-Projektionen oder Karten versuchen, Geschehnisse zu rekonstruieren. „Wir erstellen Beweise, um sie nationalen und internationalen Gerichten, Menschenrechtsforen, parlamentarischen Untersuchungen, Wahrheitskommissionen und Volkstribunalen vorzulegen“, heißt es in der Selbstdarstellung von Forensis.

Forensis ist Teil des Netzwerkes von Forensic Architecture (FA). Die Organisation versucht seit 2010, Fälle von Staatsgewalt und Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Für ihre Arbeit wurde FA im vergangenen Jahr mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, ein Fokus von FA liegt unter anderem auf Vorfällen von Gewalt gegen Palästinenser. „Wir sind nicht neutral“, sagte ihr Gründer, der Architekturprofessor Eyal Weizman, selbst Israeli, kürzlich im Interview mit der Zeit. Weizman meint damit, dass sie sich in ihrer gesamten Arbeit „immer mit gefährdeten Gemeinschaften oder Befreiungskämpfen“ verbündeten.

Die Szene beginnt am frühen Abend des 15. Mai.