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Fahrradfahren ist in Mainz beliebt: Rund 25 000 Menschen sind bei „meinRad“ angemeldet. © Mainzer Mobilität
Mainz betreibt seit 13 Jahren ein Fahrradvermietsystem, das in Deutschland seinesgleichen sucht.
Wer findet, dass einer Mobilitätswende in Berlin unter Schwarz-Rot keine Priorität mehr eingeräumt wird, sieht sich dieser Tage bestätigt: Die Landesregierung hat mit Beginn des Monats ihre jährliche Förderung von 1,5 Millionen Euro für den Mietradanbieter Nextbike eingestellt.
Durch den Zuschuss konnte das System mit rund 6500 Mieträdern in weiten Teilen Berlins angeboten werden, 3,9 Millionen Ausleihen gab es 2024. Jetzt sieht sich Nextbike gezwungen, bis Herbst etliche Ausleihstationen abzubauen. „Unbeeindruckt vom Nachfrageboom fährt der Senat das Bike-Sharing an die Wand und katapultiert die Hauptstadt damit in die Provinz“, schimpfte Christian Linow vom Berliner Fahrgastverband IGEB kürzlich im „Tagesspiegel“.
Apropos Provinz: Es gibt eine Stadt im Südwesten, die schon 2012, als nur wenige andere Kommunen in Deutschland das Thema auf dem Schirm hatten, ein eigenes Radvermietsystem auf die Beine gestellt hat – und die es seitdem Stück für Stück anpasst und ausbaut: Das gar nicht so provinzielle Mainz. Das Vermietsystem „meinRad“ der Mainzer Verkehrsbetriebe (MVG) gilt heute, 13 Jahre nach dem Start, als absolutes Positivbeispiel in dem Bereich.
Denn klug durchdachte – geschweige denn kommunal betriebene – Fahrradvermietsysteme sind in Deutschland immer noch Mangelware: Während es in Ländern wie Frankreich oder Großbritannien selbst in vielen mittelgroßen Städten oft ein ordentliches Netz von Verleihstationen gibt, begnügen sich die meisten deutschen Städte mit dem „Call a Bike“-Angebot der Deutschen Bahn, das meist aber kein allzu dichtes Stationsnetz anbietet. Eine Ausnahme ist etwa Hamburg, wo seit 2009 das Mietsystem „Stadtrad“ existiert, eine Kooperation mit Call a Bike.
Das Besondere am Mainzer System ist unter anderem dessen Dichte. Während es beim Verleihsystem der 1,86-Millionen-Stadt Hamburg 3900 Mieträder sowie 50 Lastenpedelecs gibt und Call a Bike die Zahl seiner Mieträder im gesamten Bundesgebiet mit „mehr als 15 000“ angibt, sind in allein im viel kleineren Mainz und Umlandgemeinden 1400 Räder unterwegs – 200 davon elektrisch – sowie 45 E-Lastenräder. „Der politische Wille für das Projekt war von Anfang an da“, sagt der Geschäftsführer des Mietsystems, Johannes Köck. Dass das so ist, liegt unter anderem an den Grünen und der SPD, die seit Jahren die Stadtpolitik gestalten – doch auch FDP und CDU, die in Mainz mitregierten oder -regieren, scheinen das Projekt mitzutragen, dessen goldgelbe Räder längst zum Stadtbild gehören. Das jährliche Defizit des Vermietsystems liegt „im sechsstelligen Bereich“, wie es heißt – und wird von den Stadtwerken ausgeglichen, so wie auch die Defizite des Tram- und Busverkehrs.
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Ein Junitag in Mainz. Die „meinRad“-App geladen, Zahlungsdaten hinterlegt und ein Rad via QR-Code entsperrt – dann geht die die Fahrt an der Verleihstation am Hauptbahnhof auch schon los. Dutzende der robusten Mieträder sind dort zur Morgenzeit zu haben. Der Sattel ist mit einem Handgriff schnell eingestellt, die stufen- und kettenlose Schaltung sorgt dafür, dass man ohne Gehakel durchs Stadtgebiet rollt – ein angenehmer Unterschied zu den Rädern vieler anderer Anbieter. In der zwischen Bahnhof und Rhein liegenden Mainzer Neustadt fällt auf, dass zwei Straßenecken weiter schon die nächste Vermietstation steht. Laut Johannes Köck ist ein Mitarbeiter mehrere Stunden am Tag mit einem Transporter unterwegs, um Räder von vollen zu leeren Stationen zu fahren. Herausfordernd ist das wohl gerade nachmittags, wenn viele Studierende vom höher gelegenen Campus per Mietrad in die tiefer gelegenen Wohnviertel der Innenstadt zurückradeln und sich die Uni-Stationen entleeren.
Elf Minuten dauert die Fahrt von Hauptbahnhof zum Bürogebäude der MVG. Ein Euro koste eine Fahrt unter 30 Minuten. Aufschläge gibt‘s für E-Bikes und Lastenräder, günstiger wird es, wenn man lange radelt, mehrere Räder parallel leiht oder ÖPNV- und Studi-Tickets hat. Für neun Euro im Monat bekommt man ein Abo – dann sind die ersten 30 Minuten pro Fahrt inklusive.
Johannes Köck schaut von seinem Büro hinunter auf den Hof, wo Busse zur Wartung einfahren. In seinem apricotfarbenen Polohemd macht der Mobilitätsexperte einen aufgeräumten Eindruck. Warum gerade die Stadt Mainz Pionierin mit dem Vermietsystem war? Köck fragt bei Tina Smolders nach. Die ehemalige Profi-Radrennfahrerin ist Projektleiterin bei der MVG. Ihre Erklärung: Die positiven Erfahrungen einiger Mitglieder des Stadtrats mit Mieträdern im nahen Frankreich hätten die Idee nach Mainz gebracht. 2008 gab es einen Stadtratsbeschluss, ein Jahr später setze sich das von der MVG entwickelte Konzept bei einem Wettbewerb des Bundesverkehrsministeriums durch – dann flossen von dort 1,9 Millionen Euro. „Der Zuschuss kam vor dem Hintergrund: Endlich hat mal einer groß gedacht“, erzählt Smolders. In Mainz ging es dann an die Umsetzung. Freilich gab es auch Rückschläge. So wurde die zwischenzeitliche Ausweitung des Systems nach Wiesbaden und Ingelheim wegen niedriger Nutzungszahlen wieder rückgängig gemacht.
Und mit Corona und Einführung der E-Scooter brach die Zahl der Nutzer:innen auch in Mainz ein. Doch seitdem gehe es wieder bergauf, sagt Köck: Aktuell seien etwa 25 000 Personen bei „meinRad“ registriert, mehr als 6000 Menschen nutzten das System jeden Monat mindestens ein Mal. Bei den Vor-Corona-Werten ist man aber noch nicht wieder. Stück für Stück sind seit dem Start 2012 neue Stationen hinzugekommen, oft an Orten montiert, wo zuvor Autos parkten. Knapp 200 Stationen gibt es heute in Mainz und seinen ehemaligen rechtsrheinischen – heute hessischen – Stadtteilen sowie im Nachbarort Budenheim. Neu dabei sind seit 2023 Lastenräder und seit 2024 E-Räder, die laut Köck in diesem Mai schon rund 20 Prozent der Ausleihen ausmachten. Die Pedelecs sollen das System auch für Ältere und für Menschen in den höher gelegenen Vororten attraktiv machen.
Großes Lob bekommen Stadt und MVG vom Verkehrsclub Deutschland (VCD). Der Vorsitzende des VCD Rheinland-Pfalz, Rupert Röder, erzählt, wie sich der Anteil der Radfahrenden in Mainz in zwei Jahrzehnten von unter zehn Prozent auf 26 Prozent in 2023 erhöht habe. „Das ist gigantisch, und bei dieser Entwicklung hat das Fahrradvermietsystem eine große Rolle gespielt“, sagt Röder.
Dennoch schneidet Mainz bei der jüngsten vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club durchgeführten Fahrradklima-Umfrage nur mittelmäßig ab. In Röders Augen liegt das unter anderem an langen Planungsprozessen und daran, dass die Stadt wegen des fehlenden Platzes anders als etwa Frankfurt nicht so leicht ganze Fahrspuren für Fahrräder freigeben könne. Zudem seien die Erwartungen der Leute gestiegen, was sie auch kritischer werden lasse. Carlotta Stahl von der Mainzer Linken sieht noch einen Punkt: „Ein besonders großes Problem ist das Fehlen eines gesamten und zusammenhängenden Systems“ an Radwegen, sagt sie.
Die MVG arbeitet derweil daran, dass sich zumindest das Netz der Mietstationen weiterentwickelt. So sieht eine Vereinbarung mit den Mainzer Hochschulen vor, dass ein Teil der Studienbeiträge an die MVG fließt, sodass Studierende von nun an die ersten 30 Minuten aufschlagfrei die Mieträder nutzen können.
Zudem werde man auf dem Campus weitere Stationen errichten, sagt Johannes Köck. So wie auch in neuen Quartieren: So wurde jüngst bei einem kommunalen Neubaukomplex eine Einbuchtung für die Radstation bereits in den Grundriss eingeplant.
Köck erklärt: „Wenn Menschen in ein neues Quartier ziehen, dann denken sie neu über ihre Wege und ihr Mobilitätsverhalten nach. Da entsteht die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren“.