Die Tour de France ist eine Quälerei. Das gilt für die Fahrer. Doch in diesem Jahr auch ein bisschen für das französische Publikum, weil sich an fast jedem Tag der Glanz vergangener Jahre mit der Sehnsucht nach einer goldenen oder, besser, gelben Zukunft vermischt.
Die diesjährige Tour ist eine Hommage an alte Legenden. Sie führte schon durch die Heimatstadt von Jacques Anquetil, der das Rennen als Erster fünfmal gewann. Sie geht an diesem Freitag (Start 12.10 Uhr bei Eurosport) durch die radsportbegeisterte Bretagne und das Heimatdorf des fünfmaligen Siegers Bernard Hinault.
„Es gibt keine großen Champions mehr“
Und sie startet am Samstag mit der achten Etappe in Gedenken an den legendären Louison Bobet, der 1955 als Erster dreimal in Serie gewann. All die Geschichten, die sich um diese Fahrer ranken, führen meist unweigerlich zu einer Frage, die in der Gegenwart großen Schmerz bei den Franzosen auslöst: Warum hat das Land, das Ausrichter des bedeutendsten Rennens der Welt ist, seit 40 Jahren keinen Toursieger mehr hervorgebracht?
Es klinge schrecklich, sagte Hinault jüngst der „L’Équipe“: „Aber es lässt sich nicht vermeiden: In Frankreich gibt es keine großen Champions mehr, die die Tour gewinnen können.“ Mit Guillaume Martin, dem radelnden Philosophen, startet zwar auch in diesem Jahr ein Fahrer, der schon mal Achter wurde.
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Doch gewinnen wird er das Rennen mit seinen 32 Jahren nicht mehr, was auch für den ein Jahr älteren Julian Alaphilippe gilt, der 2019 Fünfter war. Am nächsten dran am Podium war zuletzt David Gaudu, der 2022 Vierter wurde. Dieses Jahr ist er aber außer Form und gar nicht erst gestartet.
Das Problem für Hinault? Gaudu sei 2022 behandelt worden, als hätte er gewonnen: „Das hat ihm sicher nicht geholfen, auf ein besseres Ergebnis zu drängen.“ Die Gründe für das Ausbleiben des großen Triumphs sind vielschichtiger. Seit Hinaults Sieg 1985 gab es eine ganze Reihe von Siegern aus Nationen, die zuvor nie die Tour gewonnen hatten: Irland, Australien, Slowenien und Dänemark waren darunter.
„Das ist ein Eingeständnis von Schwäche“
Der Radsport ist heute internationaler als früher. Und Frankreich steht vor ähnlichen Problemen wie andere europäische Nationen: Es gibt viel weniger Amateurrennen. Dadurch ist die Basis nicht mehr so breit wie einst. Und alle, die es nach oben schaffen, stehen sofort unter großem Druck.
Das liegt auch an Legenden wie Bernard Hinault, den sie „Le Blaireau“, den Dachs, nennen. Der Siebzigjährige ist zwar längst im Ruhestand, kommt aber immer mal wieder aus seinem Loch, um die Attacke zu suchen. Wie kritisch er sich oft äußert, stößt bei französischen Fahrern auf Unverständnis, was wiederum Hinault, eher ein Typ alter Schule, nicht nachvollziehen kann.
„Allein die Tatsache, dass sie sich beschweren, ist bereits ein Eingeständnis von Schwäche“, sagt der fünfmalige Toursieger, der vorgibt, es nur gut zu meinen: „Meine Kritik hätte sie motivieren müssen. Sie hätten mir zeigen müssen, dass ich im Unrecht bin.“
„Dann werden wir sehen, wie es weitergeht“
In französischen Medien löste das sofort Diskussionen aus, ob er nicht das Podium anvisieren sollte. Vauquelin, eher ein Puncheur, der zuletzt aber seine Kletterfähigkeiten verbessert hat, will eigentlich auf Etappenjagd gehen. Viel mehr als ein Platz in den Top 5 dürften bei der starken Konkurrenz für ihn ohnehin nur schwer zu erreichen sein. Aber womöglich macht der Franzose, der kurz vor einem Wechsel zum Team Ineos Grenadiers stehen soll, ja noch mal einen Sprung.
Bei einem anderen sollen die Zeichen schon jetzt besser stehen: Paul Seixas landete jüngst beim stark besetzten Critérium du Dauphiné auf dem achten Rang der Gesamtwertung. Es war erst das zweite Worldtour-Rennen für den Achtzehnjährigen, der nicht mal eine Minute hinter dem gestandenen US-Amerikaner Matteo Jorgenson landete und vielen als größtes Talent im Peloton gilt.
Die Tour in diesem Jahr kam noch zu früh. Doch die Franzosen, die an diesem Freitag wieder zahlreichen an den Straßenrändern stehen werden, wenn das Peloton von Saint-Melo hinauf zur steilen Mûr-de-Bretagne fährt, verbinden schon jetzt große Hoffnungen mit ihrem Landsmann.
„Er soll dieses Jahr die Tour de l’Avenir gewinnen, und dann werden wir sehen, wie es weitergeht“, sagt Hinault mit Blick auf das bedeutendste Rennen für Nachwuchsfahrer, das Gaudu als bislang letzter Franzose im Jahr 2016 gewonnen hatte. Seixas geht noch zur Schule und lebt bei seinen Eltern. Der Ton, der ihn während seiner Karriere begleiten wird, scheint schon jetzt gesetzt – mit besten Grüßen aus dem Dachsbau.