„Einer trage des anderen Last“ hat der Apostel Paulus einmal geschrieben. Aber stimmt mein Eindruck, dass es bei uns heute immer egoistischer zugeht? Sobald eine kleine Schlange an der Supermarktkasse entstanden ist, ruft jemand: „Neue Kasse öffnen!“. Kaum ist diese eröffnet, stürmen alle nach vorne: Jeder will der Allererste sein.
Gibt es Unfallschwerpunkte in unserer Stadt, weil manche einfach abbiegen wollen, ohne auf die doppelte Abbiegespur oder auf den Gegenverkehr zu achten? Manche Schüler benehmen sich so, als hätten sie einen Anspruch auf gute Noten, auch wenn sie nicht gelernt haben. Im Bundestag gibt es wieder seltsamen Streit der Fraktionen um die Wahl der neuen Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrechtler. Offenbar geht es nicht allein um die fachliche Qualifikation der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern um deren Gesinnung. Das ist unwürdiges Geschacher.
Reicht nicht ein Blick auf den Supreme Court der USA, der inzwischen ideologisch alle präsidialen Egoismen Donald Trumps durchwinkt, um zu sehen, wie gefährlich solche parteilichen Egoismen sind? Und dann auch noch die Grenzkontrollen – ausgerechnet an der Grenze zu Polen. Nationaler Egoismus wird die Migration nicht regeln, kann aber viel Erreichtes kaputtmachen.
Noch im vorigen Jahr sind meine Frau und ich in Görlitz problemlos über die Brücke in den polnischen Teil der Stadt gegangen, nachdem wir auf der deutschen Seite in einem polnischen Lokal zu Mittag gegessen hatten. Im Grenzhäuschen vergangener Tage wurde Eis verkauft.
Wie sagte es auf der anderen Seite Deutschlands die Bürgermeisterin von Roermond, Yolanda Hoogtanders, beim Festakt zum 50. Geburtstag der neuen Stadt Mönchengladbach im Haus Erholung: „Für uns sind Grenzen nur zufällige Linien auf der Landkarte – als Menschen in der Euregio gehören wir alle zusammen.“ Wir sind Europäer. Europa hilft gegen nationalen Egoismus. Hoffentlich auch im ganz normalen Alltag. Gemeinsam kommen wir weiter und können Lösungen auch für herausfordernde Probleme finden. „Einer trage des anderen Last“ empfiehlt der Apostel Paulus.
Stephan Dedring ist evangelischer Pfarrer in Rheydt