Ein Ampelstart meint eigentlich besonders rasantes Beschleunigen aus dem Stand. Eben das hatte Schwarz-Rot auch vor. Doch zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause gleicht der Start von Friedrich Merz Koalition eher der gescheiterten Ampel. Es liegt mehr im Argen als die krachend gescheiterte Richterwahl.

Nach Ablauf von exakt zwei Dritteln der üblichen 100-Tage-Frist zur Bewertung neuer Regierungen ist die Stimmung in der schwarz-roten Koalition schlagartig düster. „Ich hätte nicht gedacht vor ein paar Tagen, dass wir auch bei uns hier im Land Debatten erleben, die mich daran erinnern, wie zugespitzt Debatten um oberste Gerichte in den Vereinigten, um den Supreme Court stattfinden“, sagt SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese am Freitagmittag im Bundestag. Einer der führenden Köpfe der beiden Regierungsfraktionen attestiert der Bundesrepublik nicht weniger als eine Demokratiekrise amerikanischen Ausmaßes. Wo der Vergleich hinkt: Hierzulande haben sich nicht Regierung und Opposition verhakt. Der Konflikt verläuft mittendurch die Koalition aus Union und Sozialdemokraten.

Noch zu Wochenbeginn hatten die Beteiligten aus CDU, CSU und SPD auf einen halbwegs friedlichen Start in die Ferien gehofft. Der in der Vorwoche ausgebrochene, unerwartet heftige Streit um die verschobene Stromsteuerabsenkung sollte abgekühlt werden. Die laufende Haushaltswoche, letzte Plenarwoche vor der parlamentarischen Sommerpause, nutzten die Redner der Regierungsfraktionen zum Werben für das Erreichte. Statt um bis zu 200 Euro würden die Haushalte zumindest um bis zu 150 Euro bei den Strompreisen entlastet, bekundeten Abgeordnete wie Regierungsvertreter einhellig. Merz nutzte die Generaldebatte zum Kanzleretat für ein kleines Loblied auf einen ordentlichen Start seiner Regierung. Der koalitionsinterne Streit um die im Koalitionsvertrag noch fest vereinbarte Stromsteuersenkung für alle Verbraucher? Ein Strohfeuer, höchstens!

Am Freitag jener unheilvollen Woche kam parallel zum Bundestag auch die Länderkammer in Berlin zusammen. Der Bundesrat soll den „Wirtschaftsbooster“ von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil absegnen. Das umfangreiche Steuerentlastungsprogramm wird von Wirtschaftsinstituten wohlwollend aufgenommen. Die Konjunkturprognosen gehen wieder hoch. „Damit hat die Bundesregierung die Wende in der Wirtschaftspolitik eingeleitet“, sagt Bundeskanzler Merz dazu im Bundestag. Mit dem Segen des Bundesrats wäre dieser erste Ausweis schnellen und entschlossenen Regierungshandelns geschafft, und Schwarz-Rot verabschiedete sich mit einem Erfolg in die Ferienzeit. So zumindest der Plan, doch es kommt ganz anders.

Koalitionsfrieden plötzlich dahin

Wie eine Sturzflut hat sich in diesen Tagen der Haushaltswoche etwas aufgebaut, das mindestens den Koalitionsfrieden wegspült. Vielleicht auch den Unionsfraktionsvorsitzenden Jens Spahn oder mehr. Erst leise, dann immer hörbarer wird der Widerstand der Unionsabgeordneten gegen die von der SPD vorgeschlagene Bundesverfassungsrichterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Die Flutwarnungen erreichen die Fraktionsspitzen schließlich am Donnerstagabend. Am Freitagmorgen ist die Einigung auf insgesamt drei neue Richter für Karlsruhe dahin, auch wenn es die Koalition nicht sofort wahrhaben will. Freitagmittag schließlich ist Koalitionskrise – und eine Wahl gescheitert, die unter jeder anderen Bundesregierung nur eine Formalie war.

Der Deutungskampf, wer dieses Desaster zu verantworten hat, wird die Regierungsparteien noch in die Sommerpause hinein beschäftigen. Zumal sich in der entschiedenen Ablehnung der SPD-Kandidatin auch ein tiefgehender, kultureller Konflikt Bahn bricht: In gesellschaftspolitischen Fragen wie dem Schwangerschaftsabbruch trennen Union und SPD Welten. „Für mich ist klar: Wir halten an unseren Kandidatinnen fest. Ich erwarte, dass die Mehrheit steht“, lässt SPD-Fraktionschef Matthias Miersch am Freitagabend wissen. Nach diesem Eklat ist es für die Sozialdemokraten eine Frage der Ehre, Brosius-Gersdorf nicht fallen zu lassen. Ein Einschwenken der Union aber scheint nun erst recht nicht vorstellbar.

Kommt es doch zu einer Verständigung, werden die Abgeordneten vielleicht auch ihre Urlaube unterbrechen müssen für eine Sondersitzung, damit die künftige Besetzung des Bundesverfassungsgerichts nicht erst im September geklärt wird. Auch die Opposition wird das Thema gezielt in den Schlagzeilen halten: „Diese Krise, in die sich CDU und SPD selbst manövriert haben, die müssen sie jetzt lösen, sonst ist die Koalition jetzt schon gescheitert“, lässt Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge wissen.

Die Grünen, die durchaus mit eigenen Problemen zu kämpfen haben, spüren plötzlich Oberwasser: Seit Wochen schießt sich die Partei auf Unionsfraktionschef Jens Spahn wegen dessen Maskengeschäften als früherer Bundesgesundheitsminister ein. Nun ist Spahn auch noch das Gesicht des Richterwahl-Debakels von Schwarz-Rot. Der so erfahrene wie ambitionierte Christdemokrat hat den Widerstand der eigenen Leute gegen Brosius-Gersdorf offenkundig falsch eingeschätzt – und konnte sich mit seiner Wahlempfehlung zum Erhalt des Koalitionsfriedens nicht gegen die verbreitete Skepsis durchsetzen.

Union verweigert Gefolgschaft

Wenig zufällig wird am Vorabend der Abstimmung ein Bericht des selbsternannten Plagiatsjägers Stefan Weber publik, der Auffälligkeiten in der Dissertation der Staatsrechtslehrerin Brosius-Gersdorf moniert. „Göttliche Fügung“, kommentiert einer der widerständigen CDU-Abgeordneten. Die Plagiatsvorwürfe nimmt die Unionsspitze zum Anlass, die Wahlentscheidung über Brosius-Gersdorf abzusagen. Kurz darauf schreibt Weber im Portal X: „Die Sichtweise der CDU, dass Plagiatsvorwürfe gegen Frau Frauke Gersdorf erhoben wurden, ist falsch.“

Sprich: Die Unionsspitze hat keine neue Sachlage zur Begründung ihrer plötzlichen Kehrtwende zur Hand. Ihr bleibt nur die verweigerte Gefolgschaft Dutzender eigener Abgeordneter als Erklärung. Dabei haben ja nicht nur Spahn und CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann um eine Unterstützung der SPD-Kandidatin gebeten. Auch Merz sagte in der Kanzlerbefragung am Mittwoch: „Ja“, er könne eine Wahl von Brosius-Gersdorf mit seinem Gewissen vereinbaren und bitte alle Beteiligten im Bundestag um eine Verständigung. Deutlicher kann ein Regierungschef gar nicht für ein gewünschtes Abstimmungsergebnis werden. Doch es hilft nichts.

Das ist nicht nur ein Problem für Merz. Auch die SPD fragt sich nun, wie verlässlich künftige Verabredungen mit der Unionsspitze noch sein werden, wenn diese womöglich gar keine Kompromisse in der eigenen Fraktion durchsetzen kann. Fraktionsgeschäftsführer Wiese erinnert am Freitag daran, dass seine Abgeordneten in der vorangegangenen Plenarwoche „gestanden“ hätten, als die Regierungskoalition gegen die Überzeugung der Sozialdemokraten den Familiennachzug für Flüchtlinge aussetzte. „Ich erwarte, dass bei zukünftigen Entscheidungen auch andere stehen.“

Kokettieren mit dem Koalitionsbruch

Es zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied zur Ampel, über die man sich in der Union noch heute gerne im Bundestag mokiert: In mehr als drei Regierungsjahren stand die SPD-Fraktion bei allem Murren folgsam hinter ihrem Bundeskanzler Olaf Scholz. Merz dagegen konnte sich schon bei der Kanzlerwahl nicht auf die eigenen Leute verlassen und kann es zwei Monate und 5 Tage später noch immer nicht. Fraktionschef Spahn seinerseits bleibt den Beweis schuldig, dass er den Laden daheim im Griff hat, während der Kanzler – wie in den vergangenen Wochen – Weltpolitik betreibt.

Zugleich entpuppt sich die Personalie Spahn womöglich als Lösung des Problems. Denn von Spahns auftrumpfendem Auftreten ist die SPD ohnehin pikiert. Als Spahn am Mittwoch eine „Rückkehr zu Stabilität und Handlungsfähigkeit“ im Bund lobte, kränkte das erwartungsgemäß die vorherige Kanzlerpartei SPD. Deren Generalsekretär Tim Klüssendorf kokettierte daraufhin mit einem Ja der SPD zu einem Masken-Untersuchungsausschuss gegen Spahn. Solch ein Abstimmen mit der Opposition wäre ein offener Bruch des Koalitionsvertrags.

So also war die Stimmung in der Koalition in den Tagen vor der Richterwahl, dann bricht die Sturzflut herein. In eine Koalition, die sich doch durch Einigkeit nach außen von der Ampel unterscheiden wollte. Die ihre real existierenden Erfolge nicht durch vermeidbare Streitigkeiten auf Nebenschauplätzen überdecken wollte. Was von dem Vorhaben noch übrig ist, wird Merz in seinem ersten Sommerinterview als Kanzler am Sonntag in der ARD beantworten müssen. Und einen Weg zur Verständigung der Koalitionsparteien aufzeigen. Aber vielleicht redet er auch lieber über den „Investitionsbooster“. Der kommt nach erfolgter Zustimmung durch den Bundesrat wie geplant und angekündigt.