„Nathan“ steht auf dem schlichten flachen Stein. Vor dem Stein ein rechteckiges Feld mit dürren Pflanzen. Ein Grab in einer versteckten Ecke des Friedhofs an der Löh. Bei Nathan handelt es sich um Bernhard Nathan, einen jüdischen Bürger der Stadt Viersen, der 42 Jahre lang beim Standesamt Beurkundungen vornahm. Ein hochgeachteter Mann, der sich für die Stadt einsetzte. Er starb 1927.

Schon 1912 starb der Metzger und Feuerwehrmann Josef Cleffmann. Er alarmierte die Kollegen bei einem Brand mit seinem Horn. Seine Beerdigung fand unter Beteiligung von 80 Feuerwehrleuten statt, wie die erste Vorsitzende des Vereins für Heimatpflege, Beatrix Wolters, herausfinden konnte. Sie hatte am vergangenen Samstag, 5. Juli, zu einer lebendigen und informativen Führung über den jüdischen Teil des Viersener Friedhofs eingeladen. Im Nachruf auf Cleffmann, das „älteste aktive Mitglied der Städtischen Freiwilligen Feuerwehr“, heißt es: „Nun blase Halt nach mancher Schlacht, dein Werk ist sicher treu vollbracht, da stets du nur zu Gottes Ehr 40 Jahr gedient der Wehr.“

Hermann Lewin lebte im westfälischen Hamm und war auf der Flucht in Richtung Niederlande. Die Gestapo verhaftete ihn im Zug und zwang ihn, in Viersen auszusteigen. Hier starb er: Entweder wurde er vor den Zug gestoßen oder er sprang. Grabsteine können Geschichten erzählen. Bei manchen bedarf es einer gründlichen Recherche. Die hat Beatrix Wolters vorgenommen.

Der jüdische Friedhof befindet sich auf einem etwa 1600 Quadratmeter großen Areal. Die wenigsten der gut 30 Männer und Frauen, die an der Führung teilnahmen, wussten vor der Veranstaltung des Vereins für Heimatpflege, dass es überhaupt einen jüdischen Teil auf dem Löh-Friedhof gibt. Zu finden ist er nahe des Eingangs Löhweg. Ein größerer Gedenkstein mit Davidstern auf der einen und der Jahreszahl 1945 auf der anderen Seite ist seit 1948 in der Nachbarschaft der Grabstellen aufgestellt. Nur 40 Gräber sind es, die hier zu sehen sind. Davon sieben Kindergräber, die aber also solche nicht mehr aufzufinden sind.

Der erste jüdische Friedhof der Gemeinde Viersen wurde 1829 auf der Florastraße gegründet. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde kaufte das 500 Quadratmeter große Gelände, um eine Begräbnisstätte für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger zu erhalten. Etwa 100 Gräber waren dort zu finden. Die Begräbnisstätte lag (und liegt) an der Florastraße/Ecke Rahserstraße und war damit – damals – weit genug entfernt von der Bebauung und der nächsten Kirche.

Der große Abstand zu Ortschaften entspricht der jüdischen Tradition, die Unvergänglichkeit und Beständigkeit des Friedhofs zu sichern. Wolters erklärte, dass jüdische Friedhöfe „Häuser für die Ewigkeit“ seien. Während die Gräber von Katholiken und Protestanten in der Regel nach einer Liegezeit von bis zu 30 Jahren aufgelöst werden, bleiben die jüdischen Grabstätten bestehen, „bis der Messias aufersteht“. In diesem Sinne existiert der jüdische Friedhof an der Florastraße noch. Ist aber nur noch in Form einer länglichen Rasenfläche zu erahnen. Eine Platte mit Inschrift gibt Aufschluss über die Gedenkstätte. Jüdische Friedhöfe, so Wolters, seien „geostet“, also nach Osten ausgerichtet. Der Hintergrund: Wenn sich am jüngsten Tag die Gräber öffnen und die Toten nach Jerusalem gehen, kennen sie die Himmelsrichtung, in der sie sich auf dem Weg machen.

1907 wurde der jüdische Friedhof auf dem städtischen Friedhof angelegt, 1908 eröffnet. Die Begräbnisstätte an der Florastraße wurde aufgegeben. Mit einer Ausnahme: Helene Schwarz hatte einen Vertrag mit der jüdischen Gemeinde, nach der sie auch nach Aufgabe des Friedhofs 1914 dort neben ihrem Mann begraben werden durfte. Der Erhalt des kleinen Begräbnisfeldes an der Florastraße stand unter nationalsozialistischer Herrschaft unter Druck. Als 1942 die letzten Juden deportiert worden waren und der Bürgermeister meldete, dass „Viersen judenfrei“ sei, hieß es von NS-Vertretern, es gehe nicht an, dass „deutsche Augen auf diesen Schandfleck schauen“, wie Beatrix Wolters aus einer Akte des Kreisarchivs zitierte.

Gemeindevorsteher David Katzenstein handelte mit der Stadt einen Vertrag aus, nach dem die Stadt der jüdischen Gemeinde 2000 Reichsmark zahlt, dafür würden zehn Grabsteine in einer Ausnahmeregelung auf den neuen Friedhof geschafft. Die Stadt blieb ihren Teil des Handels schuldig und brachte die jüdische Gemeinde, die ausstehende Rechnungen zu zahlen hatte, in eine wirtschaftliche Notlage. 1939 schließlich wurde die Summe entrichtet.

Der Baurat beschloss, die Grabsteine auf dem Friedhof an der Löh abzuräumen. Sie wurden nummeriert und zu Steinhandlungen gebracht. Damit verschwanden sie. Wer schon einmal jüdische Friedhöfe in Prag oder Berlin besucht hat, wird den Viersener Friedhof untypisch finden. Keine reich verzierten, hohen Grabsteine gibt es hier, denn nach dem Ende des zweiten Weltkrieges erhielten die meisten Gräber einheitlich gestaltete Grabsteine. Original sind tatsächlich nur noch drei schwarze Grabsteine. 1968 wurde der letzte jüdische Bürger hier beerdigt. Seitdem finden die Beisetzungen in Mönchengladbach statt.