Die Innenstädte müssen sich neu erfinden. In Hamburg soll das Herz der Stadt in Zukunft auch ein attraktives Wohngebiet sein. Aber wie kann das funktionieren? Durch den Bau von Wohnungen – vor allem aber durch Bewohner, die sich daran machen, Nachbarschaft zu leben. Doch dazu fehlt noch einiges.

An einem Tag, an dem sich in der Reimerstwiete die Langeweile über den Tag zieht wie ein altes Kaugummi, rückt auf Höhe der Hausnummer 2 ein Donnern näher. Ein Mädchen reißt die Eingangstür des Hochhauses auf, hinter ihr stürzen drei weitere durch die Tür. Vier Gestalten in Leggings und Tops rennen über den Bürgersteig. Über die Straße, die Stufen zum Katharinenfleet hinunter, die letzten Stufen nehmen sie im Sprung, bis sie in einem großen Raum mit Spiegelwand vor einer jungen Frau stehen bleiben. Nataly Schwenk stapelt im Laden 4 Stühle ineinander. Zweimal pro Woche unterrichtet sie hier, in dem Stadtteiltreff auf Probe, Hip-Hop. Was es damit auf sich hat, dazu später mehr. Die Mädchen aus den Hochhäusern sind zu früh, die Stunde beginnt erst in 15 Minuten. Aber wenn Nataly da ist, haben sie das Gefühl, etwas zu verpassen.

Lange gab es so gut wie nichts, das man in der Reimerstwiete hätte verpassen können. Seit November vergangenen Jahres brennt hier, im Erdgeschoss der Hausnummer 3, an sieben Tagen der Woche Licht. Der 90 Quadratmeter große Raum ist ein Experiment. Für die Wohnblöcke ringsum, aber auch für die Stadt. Sie möchte die Innenstadt schrittweise umbauen zu einem Wohnquartier. Und vielleicht wird in diesem Zug aus dem Laden 4 ein dauerhafter Stadtteiltreff.

Das Herz der Stadt soll, so sieht es der Senat vor, nicht nur Flagship-Stores beheimaten, sondern auch eine Nachbarschaft. Der Stadtkern steckt in einem Umbau. Die Gebäude großer Kaufhäuser werden umgebaut, Ladenflächen stehen leer, es fehlt an Grün und an Spielplätzen, Kulturstätten und Freiräumen. Qualitäten, die über die Zukunft des Stadtkerns entscheiden. Meist aber nur entstehen, wenn Menschen, die in der Nähe wohnen, sie einfordern oder selbst anstoßen.

Die Wohnungen, die es braucht, um diesen Wandel einzuläuten, erkämpft sich die Stadt in einem „schwierigen und mühsamen Geschäft“, gesteht die Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt, Karen Pein (SPD). „Doch jede Wohnung zählt. Den Anteil an Wohnraum im Stadtkern wollen wir künftig auch dadurch erhöhen, indem wir bei der Entwicklung von Bestandsbauten neben Büros- und Gewerbeflächen idealerweise immer auch Wohnungen mitdenken“, so Pein. Wie ernst es der Stadt damit ist, zeigen Änderungen in der Bauordnung, konkret Paragraf 48, Nummer 6, die im Januar in Kraft treten. Sie sehen unter anderem vor, dass bei der Änderung der Nutzung, anders als bisher, der Bestandsschutz erhalten bleibt. Somit wird die Umgestaltung dieser Bauten einfacher und damit wirtschaftlicher.

Was Nachbarschaften sonst noch brauchen, testet die Stadt derzeit mit dem Programm „Verborgene Potenziale Innenstadt“. Etwa dort, wo schon gewohnt wird, in der bereits erwähnten Reimerstwiete auf der Cremon-Insel in der Altstadt. 1500 Menschen wohnen hier, überwiegend in Genossenschaftsbauten. Rund ein Drittel sind Sozialwohnungen für einkommensschwächere Menschen. Andere Bewohner zahlen ähnlich hohe Mieten wie anderswo und müssen in Kauf nehmen, dass ihre Nachbarschaft Austragungsort vieler Großveranstaltungen ist, es aber kaum Sportangebote, Freiflächen und Spielplätze in der Nähe gibt.

Anwohner fühlen sich wie Gäste im eigenen Kiez

Dem Nachwuchs bleibt da nur die unmittelbare Umgebung. „Und da gibt es nichts“, sagt Nicol. Im Sommer wechselt die Zehnjährige auf das Gymnasium Klosterschule, wo sie mit der S-Bahn hinfährt. Vor gut neun Jahren zogen ihre Eltern mit ihr her. Die Familie lebt in der Katharinenstraße, in einer Dreizimmerwohnung mit Balkon. Mutter Monika arbeitet in einer Kantine in der Hafencity, Vater Piotr als Hausmeister. Sie fühlen sich wohl hier, das schon, sagt Monika.

Würden sie wieder herziehen, wenn sie es noch einmal entscheiden könnten? Die 48-Jährige weiß es nicht. „Ich fühle mich hier oft, als gehe es gar nicht um uns, die hier wohnen. Als würde in der Stadt ein Film gedreht und wir müssen hinter der Absperrung bleiben.“ Seit es den Laden 4 gibt, hat Monika Hoffnung. „Dass hier etwas los ist, für die Kinder vor allem, aber auch für uns. Und man nicht immer gleich Geld ausgeben muss.“

In diese Stimmungslage hinein eröffnete der Laden 4 im November vergangenen Jahres. Eine Gewerbefläche im Erdgeschoss eines Saga-Wohnkomplexes. „Es ist schon bezeichnend, wie schnell die Menschen auf unser Angebot, Ideen zu entwickeln, angesprungen sind“, erzählt Kristina Bacht, die den Architektursalon schräg gegenüber leitet und mit dem Verein Altstadt für alle! e.V. bereits einige Aktionen auf der Cremon-Insel veranstaltete. Sie kennt die Ecke seit 16 Jahren. Mehrere Mieter hat sie kommen und gehen sehen. Nachdem der letzte auszog und die Fläche lange leer stand, gab sie sich einen Ruck und schrieb viele Mails. Ihre Vision: Dort, wo lange nichts war, einen Nachbarschaftstreff etablieren. Im Dezember öffnete dieser zum ersten Mal, es gab Punsch und Kekse. An einer Wand durften die Besucher hinkritzeln, wie es, da, wo sie wohnen, ist und was sie in dem extra Raum gerne tun würden. „Wir wollen raus aus unseren Zimmern“, stand da. „Weg von den Eltern, irgendwohin, wo wir bleiben können, auch wenn es dunkel ist.“

Es gebe viel, was die Nachbarschaft hier dringend brauche, sagt Bacht. „Die Kinder benötigen Orte, wo sie sich aufhalten können.“ „Welche Angebote diese Bedürfnisse aufgreifen, das finden wir momentan heraus“, fügt Dominique Peck von „projektbüro“ an. Derweil soll sich die Nachbarschaft Gedanken machen, ob sie den Laden 4 eigenständig weiterführen will. „Wir sehen uns lediglich als Impulsgeber“, so Bacht. „Die Aufgabe ist es, die Bewohnenden aus der Nutzung in die Verantwortung zu bringen und einen Betrieb aufzubauen, der im Quartier funktioniert“, fügt Peck hinzu.

Während rundherum die Quadratmeterpreise in gigantische Höhen klettern, setzt sich die Stadt dafür ein, in der Nachbarschaft des Laden 4 die Bindungen für Sozial- sowie geförderte Wohnungen zu halten. Weil man weiß, es braucht sie. Und es braucht sie an ebendieser Stelle der Stadt. Denn: Soziale Durchmischung ist der Nährboden beliebter Stadtteile, und die ist eng verbunden mit Austausch und Offenheit.

Wer unweit der Cremon-Insel, wo astronomische Preise für Grund und Boden aufgerufen werden, bauen will, muss um die Ecke denken. Das zeigt der Gröninger Hof. So heißt eine Genossenschaft, die sich daran macht, in einem ehemaligen Parkhaus in der Gröninger Straße 12 nahe Rödingsmarkt Wohnungen sowie Räume für kulturellen Austausch zu bauen. Die Stadt unterstützt das Vorhaben, in dem sie der Genossenschaft das Objekt zur weiteren Entwicklung überließ. 90 Wohneinheiten sollen hier entstehen. Das ist viel. Andernorts gestaltet sich der Wandel kleinteiliger. Eine Übersichtskarte der Behörde zeigt: Zwar werden in den nächsten Jahren an knapp ein Dutzend Orten im Zentrum neue Wohnungen entstehen. Rot eingefärbt sehen sie im Vergleich zu den weißen Einzelhandelsflächen jedoch aus wie Pünktchen. Dabei wächst die Bevölkerungszahl in der Innenstadt seit 2009 stetig an. Eine Tendenz, die in erster Linie auf die Zuwächse in der Hafencity zurückgeht. Sie bildet mit Neustadt und Altstadt das Zentrum von Hamburg. Im Jahr 2023 wurden hier über 700 Wohneinheiten genehmigt und circa 1200 fertiggestellt. Insgesamt wird die Hafencity nach ihrer Fertigstellung auf mehr als 7000 Wohnungen kommen. Und damit über ähnlich viele verfügen wie die Neustadt mit circa 7650. Die Altstadt kommt aktuell auf circa 1400 Wohneinheiten. Sie verzeichnet lediglich marginale Zuwächse.

Familien ziehen weg, Singles her

Unter Berücksichtigung weiterer Zahlen zeigt sich jedoch, dass die Wohnqualität zu wünschen übriglässt. So zumindest sehen es Familien in der Neustadt. Sie ziehen weg, Singles her. Etwa weil sie für veraltete Wohnungen hohe Mieten zahlen, die noch dazu teurer werden, wie alles um sie herum. Und so schrumpft die Bevölkerungszahl in der Neustadt, das belegen Zahlen von 2019 auf 2021.

Wie sich das schnell ändern ließe, versuchen die Bewohner einer Bürofläche am Alten Fischmarkt herauszufinden. Vor einem Fenster des mehrstöckigen Gebäudes flattern Handtücher im Wind. Im zweiten Stock testen 16 Studierende der Hafencity Universität im Rahmen eines Master Entwurfskurses auf 150 Quadratmetern Büroraum, wie es ist, zu wohnen, wo andere einkaufen. An einem langen Tisch sitzen Juli Sottorf, 23, Leona Erdmann, 24, und Emma Stiehle, 25. Sie bilden das Architekturkollektiv „vonwegenleer“. Ihre Bachelorarbeit schrieben sie über Wohnzwischennutzung im Büroleerstand. Vergangenes Jahr war das. „Ein abstraktes Thema, das wir anschaulicher machen wollten“, erzählt Sottorf. Im Gegensatz zu Wohnraum, der laut Wohnraumschutzgesetz nicht leer stehen darf, gibt es im Fall von Büroflächen keine Reglementierung.

Das Kollektiv bewarb sich bei „Verborgene Potenziale Innenstadt“ mit der Idee, einen Monat im Büro zu wohnen. Durch die Förderung der Stadt konnten die Kosten zur Umnutzung gedeckt werden. Der Eigentümer kooperierte, zu verlieren hatte er wenig. Die Räume stehen ohnehin leer und die Nebenkosten, rund 500 Euro monatlich, werden über die Förderung bezahlt. „Schnell war uns klar: Wir müssen das Büro umcodieren, um uns hier wohlzufühlen“, erzählt Stiehle.

Die grellen Deckenleuchten wurden durch Blenden gedimmt, Zwischenwände versetzt. So entstand eine große Gemeinschaftsküche mit fünf Zimmern plus Duschbad. Die meisten Umbauten hätten die Studierenden selbst durchgeführt, hier und dort mit Unterstützung von Facharbeitern. Dem Kollektiv geht es dabei um mehr als die Belebung der Innenstadt. „Wir wollen zeigen, dass Zwischennutzung funktioniert, und zwar mit überschaubarem Aufwand und geringen Kosten“, so Sottorf. „Und dass sie daher ein Ansatz sein kann, um gegen Wohnraummangel vorzugehen“, so Erdmann. Zwar stehen in der Innenstadt vergleichsweise wenige Büros leer. Doch in anderen Teilen der Stadt macht er sich bemerkbar. Im ersten Halbjahr 2023 lag die Quote für ganz Hamburg laut zwei leicht unterschiedlichen Maklerstudien zwischen 2,7 und 4 Prozent.

Die ersten Erfahrungen der drei lauten: Der nächste Supermarkt ist der Rewe in der Europa Passage. Und: Wer morgens um halb acht im Bademantel das Blumenbeet vor dem Eingang wässert, muss damit rechnen, von Touristen fotografiert zu werden. Was fehlt der Innenstadt ihrer Meinung nach? „Mehr Ecken, die der Nachbarschaft überlassen werden. Wo nichts Fertiges hingesetzt wird, sondern etwas wachsen kann“, sagt Juli Sottorf.

Wenn sich die City nach Jazz anhört

Ein Donnerstag im Juni gegen 17 Uhr. Beim britischen Herrenausstatter Ladage & Oelke am Alten Wall werden die Auslagen zurechtgerückt. Nebenan, im Café Cotidiano, stößt manch einer schon auf das Wochenende an. Im Hintergrund trägt eine laue Brise ein Saxofon-Solo herüber. Luftlinie kaum mehr als 50 Meter von dort, lässt Fee Schlennstedt, die Geschäftsführerin des Nica Jazz Clubs, den Blick über die Bühne wandern. Die Band des Abends setzt zum Soundcheck an. „Es gehört zur Philosophie des Hauses, die Tür zum Club offen stehenzulassen. Unsere beste Visitenkarte ist die Musik, die hier gemacht wird“, sagt Schlennstedt. Bevor sie mit dem Club in der denkmalgeschützten, von Artinvest aufwendig sanierten Fläche mit Blick auf das Fleet festmachte, sammelte sie reichlich Erfahrung in den wichtigsten Jazz Clubs des Landes. Wie der Zufall es wollte, traf sie, die immer schon ihren eigenen Jazzclub eröffnen wollte, auf einen „solventen Verrückten“, dessen größter Wunsch es ebenfalls war, einen eigenen Jazz Club zu besitzen: Robert von Bennigsen.

Beide lieben Jazz und beide sind davon überzeugt, dass es Läden wie das Nica braucht, damit sich die Hamburger Innenstadt weiterentwickelt. „Unsere Zahlen zeigen, dass unser Konzept funktioniert. Unser Wunsch, vor allem Laufkundschaft für unsere Konzerte zu gewinnen, geht allerdings noch nicht auf. Die meisten Besucher kommen unseretwegen her und nicht, weil sie ohnehin in der Innenstadt sind.“

An die Zukunft von Hamburgs Innenstadt als beliebtes Ausgehviertel glaubt Fee Schlennstedt dennoch. „Wir sind überzeugt, dass wir hier richtig sind. Jetzt müssen wir nur einen langen Atem haben und Geduld.“ 300 Sitzplätze bietet der Club, der an mindestens fünf Tagen der Woche geöffnet ist. Auch deshalb hat Schlennstedt ein breites Publikum im Visier. „Der Club soll ein Ort für alle sein. Mir ist sehr wichtig, dass auch junge Leute kommen und nicht nur das etablierte Jazz-Publikum.“ Es sei wichtig, sich auszuprobieren. Eine Herangehensweise, die sie auch der Stadt rät. Einerseits wolle sie Veränderungen, andererseits sei der öffentliche Raum völlig überreguliert. „Das passt nicht zusammen.“ Was wünscht sie sich für die Innenstadt? „Dass mehr gewagt, mehr ausprobiert wird.“ Schließlich entstünden die besten Sachen oft, und da schließe sich der Kreis zur Musik, aus dem Mut zur Improvisation.

Eva Eusterhus berichtet seit 2005 für WELT und WELT AM SONNTAG aus Hamburg.