In Großbritannien etabliert sich die rechtspopulistische Reform UK als stärkste Kraft. Das liegt auch daran, dass die Labour Party die Arbeiter im Stich lässt. Ein Lokalaugenschein im ehemaligen Industriegebiet in der nordenglischen Grafschaft Durham.
Es geht schon lang abwärts“, sagt Thomas McManners, 67 Jahre alt, halbpensionierter Elektroingenieur, Träger einer Goldkette und eines Kurzhaarschnitts. Er ist auf dem Weg in sein Stammcafé in der Siedlung Easington Colliery in der nordenglischen Grafschaft Durham. Die jungen Leute hier nehmen Drogen, die älteren trinken, und wer könne, ziehe anderswohin, sagt er. Seit Jahrzehnten werde nichts investiert. „Die Regierung schert sich nicht um uns.“ Und dann seien noch die Migranten, die die Behörden ins Land lassen. „Das muss aufhören“, sagt McManners. Einst war er ein Labour-Anhänger, aber das ist lang her. Bei den Gemeinderatswahlen im Mai habe er Reform UK gewählt, sagt er bestimmt. „Es ist Zeit für einen Wandel.“
Er hat es gemacht wie die meisten hier. Im Wahlkreis Easington sind alle drei Sitze an Reform UK gegangen. Auch im Rest von County Durham triumphierte Nigel Farages Rechtsaußen-Partei. Sie hat eine Mehrheit im Gemeinderat gewonnen. Es ist eine von 10 Kommunen in England, die Reform UK nunmehr kontrolliert. Die Wahlen haben bestätigt, was schon länger offensichtlich ist: Reform UK, die derzeit in Umfragen mit 34 Prozent mit Abstand die stärkste Partei ist, hat sich als prägende Kraft etabliert.
Easington Colliery, knapp 5000 Einwohner, war einmal ein „pit village“, ein Bergbaudorf. Jahrzehntelang arbeitete der Großteil der Männer in der Zeche, 400 Meter unter dem Meeresboden bauten sie Kohle ab – harte, gefährliche Arbeit, aber ordentlich entlohnt. Nachdem die Grube 1993 geschlossen wurde, setzte schnell die Verwahrlosung ein. Heute zählt die Gemeinde zu den ärmsten zehn Prozent in England, die Kinderarmut hat Rekorde erreicht. Ebenso verbreitet sind Übergewichtigkeit, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit.
Kulisse für „Billy Elliot“. Das Straßenbild ist typisch für ein englisches Bergbaudorf. Schmale, identische Häuschen reihen sich aneinander, in den Vorgärten hängt die Wäsche. Der Ballett-und-Bergarbeiterstreik-Hit „Billy Elliot“ (2000) wurde hier gedreht. Aber wenn man an diesem sonnigen Vormittag durch die Straßen von Easington Colliery geht, ist von den Feel-Good-Vibes jenes Films nichts zu spüren. Viele Wohnhäuser sind verbarrikadiert, ebenso etliche Geschäfte an der Hauptstraße. Ein Auto ohne Reifen steht neben einer umgekippten Mülltonne.
Dass die radikale Rechte hier Auftrieb hat, ist einerseits nachvollziehbar. Es ist eine Geschichte, die man auch in vielen anderen Ex-Industriegebieten erzählen kann: Demagogen schlagen Kapital aus der verbreiteten Perspektivlosigkeit, schieben Probleme den Migranten in die Schuhe und versprechen, Einheimische an erste Stelle zu setzen.
Aber eine entscheidende Rolle in dieser Geschichte nimmt die ehemals dominante Kraft in County Durham ein. Früher, so geht der Witz, hätte man hier einer Sau die rote Labour-Rosette anheften können, und sie wäre mit großer Mehrheit ins Parlament gewählt worden.
Wenn Heather Wood früher durch die Straßen von Easington Colliery ging, sagten die Leute: „Ah, hier kommt die Labour-Partei!“ 50 Jahre lang war sie aktives Parteimitglied, acht Jahre lang saß sie als Abgeordnete im Gemeinderat. Bereits als Kind sei sie zur Sozialistin geworden, sagt Wood. Ihr Vater – Bergmann, natürlich – habe ihr gesagt, „was richtig und was falsch ist“. Das einschneidende Ereignis in ihrem Leben kam 1984. Um Margaret Thatchers geplante Schließung von 20 Zechen zu verhindern, trat die Gewerkschaft der Bergarbeiter in den Streik. Der einjährige „miners‘ strike“ war die wichtigste Konfrontation zwischen Regierung und Arbeitern in der britischen Nachkriegszeit. Er endete mit einer Niederlage für die Kumpel, aber dieses eine Jahr stärkte den sozialen Zusammenhalt der Community umso mehr.
Wood engagierte sich in der Gruppe „Women Against Pit Closures“. Es sei eine Lebensader gewesen für die Streikenden, sagt sie: Die Frauen sorgten nicht nur dafür, dass die Bergarbeiter zu essen hatten, sie stellten sich mit ihnen an die Streikposten, trieben Spendengelder auf, boten moralische Unterstützung und Beratung. Ohne die Frauen wäre der Streik in Kürze kollabiert, da hat Wood keine Zweifel.
Heute ist Wood 73 Jahre alt. Sie geht am Stock und hört nicht mehr so gut. Aber wenn sie spricht, ist sie noch immer so feurig wie in jüngeren Jahren. Im Gespräch kommen ihr manchmal Tränen, etwa als sie von der Solidarität während des Streiks spricht. Dann wieder schneidet sie eine zornige Grimasse und krallt ihre Hand, als wolle sie jemanden darin zermantschen – zum Beispiel als die Rede auf Margaret Thatcher kommt. Oder auf Keir Starmer.
»Labour im Untergrund.« Nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks und der Schließung der Grube knapp zehn Jahre später hielten die Wähler in Durham County lang an der Labour-Partei fest, wenn auch mit abnehmendem Enthusiasmus. Noch bei den Lokalwahlen von 2017 gewann die Partei eine ansehnliche Mehrheit im Gemeinderat, in Easington war das Labour-Votum überwältigend. Aber zu jener Zeit stellte Wood fest, dass die Partei viel weniger sichtbar wurde.
„Früher waren Labour-Aktivisten immer präsent in der Öffentlichkeit. Manchmal luden sie zu einem Pie-und-Erbsen-Abendessen, oder sie organisierten einen Bingoabend für Pensionisten. Sie halfen im Jugendklub aus oder im Gemeindezentrum.“ Wenn man Rat brauchte, dann fand man ihn in einem dieser Orte. Aber das habe sich geändert: „Die Labour-Partei verschwand im Untergrund.“
In diese Leerstelle sei die Rechte getreten. Langsam sei sie „in die Gesellschaft gekrochen und hat sie infiltriert“, sagt Wood. Besonders aktiv seien Kreise ehemaliger Armeeangehöriger geworden, sie hätten sich auf ihren Patriotismus berufen und Leute rekrutiert. Vor einigen Jahren ging Nigel Farage in East Durham auf Tour, erzählt Wood. „Er klapperte ein Pub nach dem anderen ab, kaufte den Leuten ein Pint und schäkerte mit ihnen. ‚Der scheint ganz okay‘, sagten die Leute.“ Wenn man am Boden sei und nichts habe, dann versuche man sich an allem festzuhalten, sagt Wood. „Farage versprach das Blaue vom Himmel.“ Jobs für alle, ein Ende der Immigration.
Fast 97 Prozent weiß. Dass gerade die Einwanderung die Gemüter so erhitzt, ist überraschend. In Easington Colliery trifft man wenige Migranten, in ganz County Durham sind fast 97 Prozent der Einwohner weiß. Laut Heather Wood gibt es mehr ehemalige Bergarbeiter, die heute in Spanien leben, als Migranten in County Durham. Aber Farage und Reform UK habe die Leute wegen der Migranten „in Angst und Schrecken versetzt“. Mit tatkräftiger Mithilfe der konservativen Medien ist Migration seit einigen Jahren wieder zu einem heißen Thema geworden. Zudem fehlen den Kommunen die finanziellen Mittel, um den wenigen Asylbewerbern, die hierher geschickt werden – oft aus südenglischen Gemeinden, die billige Wohnungen suchen – angemessene Unterstützung zu bieten, sagt Wood.
Die Parlamentswahl im Juli 2024 sei die letzte Chance gewesen, den Vormarsch der Rechten aufzuhalten. Wood war zu dem Zeitpunkt nicht mehr Parteimitglied. Vor etwa drei Jahren sei sie zum Grab ihrer Eltern gegangen, um ihnen zu beichten, dass sie aus der Labour-Partei austreten werde. „Es war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je getroffen habe“, sagt sie. Aber ihre Erschütterung über den Rechtskurs unter Starmer ging zu tief.
Dennoch hoffte sie auf eine Wende mit Labour. Nach 14 Tory-Jahren hatte Starmer die Möglichkeit, den abgewirtschafteten Regionen unter die Arme zu greifen. Der Labour-Kandidat in Easington gewann mit 49 Prozent der Stimmen, wenn ihm auch die Reform-Partei mit knapp 30 Prozent auf den Fersen war.
Die Ernüchterung über die neue Labour-Regierung setzte umgehend ein. „Was ist das Erste, das Starmer macht?“ fragt Wood. „Er kürzt die Heizzuschüsse für Rentner und hält an der von den Tories eingeführten Kürzung der Sozialleistungen für Familien mit mehr als zwei Kindern fest.“ Diese Sparmaßnahmen beim Sozialbudget werden in jedem Gespräch mit den Bewohnern von Easington Colliery angesprochen. Laut Meinungsforschern war es ein wichtiger Grund, warum Reform UK in den englischen Lokalwahlen so gut abgeschnitten hat.
Diese Tatsache ist auch an Nigel Farage nicht vorbeigegangen. In den vergangenen Wochen hat er versucht, sich als wirtschaftlich progressiv zu verkaufen. Er sprach sich für eine Verstaatlichung des notleidenden Stahlkonzerns British Steel aus – und für eine „gute Partnerschaft mit den Gewerkschaften“. Jüngst versprach er, die von Labour eingeführten Sozialkürzungen rückgängig zu machen. Für Heather Wood ist das alles „leeres Geschwätz“. Immerhin ist Farage für seine wirtschaftslibertäre Haltung bekannt, den staatlichen Gesundheitsdienst NHS würde er am liebsten privatisieren. Aber als taktischer Winkelzug ist es geschickt.
»Kartenhaussieg.« Nach den Wahlen 2024 sprachen Experten von einem „Kartenhaussieg“. Wenn Labour nicht den versprochenen Wandel herbeiführen würde, würde die Unterstützung in sich zusammenfallen – und der radikalen Rechten ein Einfallstor bieten. Genau dieses Szenario spielt sich jetzt ab. Die Umfragewerte Labours sind seit ihrem Regierungsantritt im freien Fall. Noch nie hat eine neue Regierung in ihren ersten zehn Monaten so schnell an Unterstützung verloren. Mit Verspätung hat Labour erkannt, was für einen Schaden sie mit den sozialen Kürzungen angerichtet hat: In letzter Minute vollzog sie Ende Juni eine Kehrtwende, um eine peinliche Niederlage im Parlament abzuwenden. Aber es könnte bereits zu spät sein.
Heather Wood gibt jedoch nicht auf. Im März, als die Gedenkfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Bergarbeiterstreiks zu Ende gingen, gründeten sie und ihre Kolleginnen die Organisation National Women‘s Action for Positive Change. Sie werden da anfangen, wo sie sich auskennen: an der Basis. „Wir werden Frauen zum Kaffee einladen, Workshops organisieren und so weiter“, sagt sie. „Wir werden mit den Leuten reden und sie von einem Votum für Reform abbringen.“ Es werde Zeit brauchen, aber eine Alternative gebe es nicht. Langsam soll so der öffentliche Raum von der Rechten zurückgewonnen werden. „Wir haben große Pläne“, sagt Wood.
Hintergrund
Das frühere Industriegebiet in Nordengland mit seinen Kohlerevieren war lang Hochburg der Labour Party, bis bei den Parlamentswahlen 2020 Boris Johnson die „Red Wall“ für die Konservativen durchbrach.
Inzwischen haben sich die Bewohner sowohl von Labour als auch von den Tories verabschiedet und sich zunehmend der Partei Reform UK des Brexit-Vorreiters Nigel Farage zugewandt.
In Umfragen liegt die Farage-Partei mit 34 Prozentpunkten auf Platz eins.
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