Hamburg – Es war ein Kampf – bis heute. Aufgegeben hat Mehria Ashuftah nie. Sie ist 37 Jahre alt, war ein Flüchtlingskind. Heute ist sie Juristin und sitzt als erste afghanischstämmige Frau für die SPD im Hamburger Landesparlament, der Bürgerschaft. Eine Erfolgsgeschichte.
Bis dahin war es ein steiniger Weg. BILD zeichnet ihn nach.
Er beginnt am 3. November 1988 in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Der Ingenieur Aman Ashuftah (heute 60) und seine Frau Bahira (heute 60) schnüren ein paar Bündel. Ihre Tochter Mehria ist an dem Tag ein Jahr alt geworden. Die Mutter nimmt das Kind, dann flüchten die drei vor den gefährlichen politischen Wirren in Afghanistan.
Eines der frühesten Fotos: Mehria Ashuftah auf dem Arm ihrer Mutter kurz vor der Flucht im Jahr 1988
Foto: privat
Drei Tage geht’s zu Fuß über die Berge nach Pakistan. Von dort ein Jahr später per Flieger nach Frankfurt, dann nach Hamburg – ein neues Leben. Die Behörden quartieren die Ashuftahs in einem Hotel an der Rotlicht-Meile Reeperbahn ein.
Ein Zimmer im Flüchtlingsheim
Kurz darauf gibt’s ein karges Zimmer im Flüchtlingsheim in Hamburg-Groß Borstel. Mehria Ashuftah sagt: „Dieses Heim gibt es auch heute noch. Ich habe es nie geschafft, dort jemals wieder einen Fuß hineinzusetzen.“ Zu belastend sind die Erinnerungen.
Auch die Grundschulzeit ist schmerzhaft. „Mit fünf wurde ich eingeschult, war die Jüngste“, sagt Ashuftah. Die deutsche Sprache fällt ihr schwer. Eine Lehrerin sagt zu ihr: „Du hast schöne Augen und kannst gut rechnen, vielleicht wirst du mal eine hübsche Kassiererin …“
Die fünf Jahre alte Mehria mit ihren Großeltern Nassima und Mir Islam (re.) in der Nähe der Flüchtlingsunterkunft
Foto: privat
Ein vergiftetes Lob, das wehtut. Die Tränen nach diesem Satz trocknet ihr Großvater. Er setzt sie vor ein großes Foto einer Tante, die einen schwarzen Umhang trägt – sie war Anwältin, Dozentin und Politikerin in Afghanistan. Unten rechts steckt er ein Foto der kleinen Mehria dazu und sagt: „Jedes Jahr machen wir ein neues Foto, bis du selbst eine schwarze Robe trägst.“
Ashuftah nach dem 1. Jura-Staatsexamen im Juni 2016
Foto: privat
Die Botschaft: Du kannst alles werden, wenn du es willst.
Elf Jahre später, 2019, macht Mehria Ashuftah ihr 2. Staatsexamen. Heute ist sie Anwältin und Dozentin an der Uni. „Ohne meine Familie, die mich immer ermutigt hat, hätte ich das nie geschafft“, sagt sie. Der Opa hat den Erfolg seiner Enkelin nicht mehr erlebt. „Aber ich habe ein Foto in Robe an seinem Grab vergraben“, sagt Ashuftah.
Die Botschaft: Opa, ich habe es geschafft
Geschafft hat sie inzwischen auch den Weg in die Politik. Seit 2011 ist sie in der SPD. Die Kandidatur für die Bürgerschaft war kein Selbstläufer. Aber die Genossen kamen nicht um Ashuftah herum. Frau, jung, Migrationshintergrund, kompetent – den Gegnern fehlten die Argumente.
Seit März sitzt Ashuftah für die SPD in der Hamburger Bürgerschaft
Foto: Henning Schaffner
„Durchsetzungsfähig“, nennen sie sie in der Partei inzwischen. Oder hinter vorgehaltener Hand: „Mit der legt man sich besser nicht an …“ Auch eine Form von Respekt.
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Aber Ashuftah will mehr, keine Symbolfigur sein: „Alle müssen begreifen, dass ich nicht nur das ehemalige Flüchtlingskind im Parlament bin.“ Sie sitzt jetzt im mächtigen Haushaltsausschuss der Bürgerschaft – dort, wo die Millionen verteilt werden.
„Ich bin drin“: Ashuftah mit ihren Eltern, als sie erfahren, dass sie ins Parlament gewählt wurde
Foto: instagram.com/mehria.ashuftah/
Auf Instagram gibt es ein Video, das Mehria Ashuftah am 3. März zeigt, als klar wird, dass sie tatsächlich den Sprung ins Parlament geschafft hat. Sie sitzt zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter. Ashuftah sieht das Ergebnis und ruft: „8994 Stimmen, oh mein Gott. Ich bin drin.“
Dann fällt sie ihren Eltern um den Hals. Die Flucht aus Afghanistan ist 36 Jahre her.