Zwei Frauen stehen nebeneinander und schauen sich lächelnd an.

AUDIO: Kornblumenblau: Abgründe einer Familienbiografie (55 Min)

Stand: 14.07.2025 00:01 Uhr

Susanne Beyer rekonstruiert das Leben ihres Großvaters im NS-Regime und entdeckt dabei eine verstörende Mischung aus Schuld, Schweigen und familiären Tabus. Im Interview erzählt Sie, wie Sie bei der Recherche vorgegangen ist.

von Claudia Christophersen

Susanne Beyer geht den Dingen auf den Grund, bohrt nach, stellt Fragen, auch – und gerade – die unbequemen. Seit 1996 ist sie Redakteurin beim „Spiegel“, ist Autorin der Chefredaktion und hat gerade die Leitung des Hauptstadtbüros übernommen. Über Themen, die sie nicht loslassen, schreibt die Journalistin auch Bücher. 2021 erschien beispielsweise „Die Glücklichen“. Ein Buch über Frauen, die ab 50 gelassen und erfolgreich im Leben stehen. In ihrem jüngsten Buch nimmt sie die komplizierte, auch mysteriöse Geschichte ihres Großvaters unter die Lupe. Als Chemiker war er in die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten verwickelt, wurde dann, kurz vor Kriegsende, auf bis heute ungeklärte Weise erschossen.

Susanne Beyer hat sich auf eine aufwendige Spurensuche begeben, hat ihre Familie befragt, Akten in Archiven studiert, mit Zeitzeugen gesprochen, sich mit der Enkelgeneration der Täter beschäftigt. Und gerade auch mit sich selbst. Die aufwühlenden Ergebnisse ihrer tiefen Recherche haben sich ausgewirkt auf das Seelenleben der Enkelin, die ihren Großvater nie kennengelernt hat. Darüber schreibt Susanne Beyer in ihrem Buch „Kornblumenblau“ und spricht in NDR Kultur à la carte mit Claudia Christophersen.

Warum haben Sie so spät, 80 Jahre nach Kriegsende, mit der Familienrecherche begonnen? Gab es dafür eine Initialzündung oder irgendetwas, was Sie bewegt hat, damit anzufangen?

Susanne Beyer: Ich finde das geradezu verrückt, dass es so spät ist. Ich bin Journalistin, ich habe eine Journalistenschule besucht und in der Berufspraxis das Recherchieren gelernt. Dann hatte ich als zweites Studienfach Geschichte. Ich war viel in Archiven. Ich habe mich immer für diesen Großvater interessiert, weil meine Mutter so ein schwärmerisches Bild von ihm entworfen hat. Ich wollte immer mehr wissen und dann fange ich jetzt erst mit diesem Verlauf von Zeit an. In der Zeit sind auch viele Leute gestorben, die mir viel hätten erzählen können. Aber ich glaube, dass auch ich als Enkelin in so ein Gefühlskonstrukt mit hineinverwoben bin und diesen freundlichen Großvater brauchte. Deswegen habe ich mich erst so spät daran gemacht.

Sie fragten mich, warum jetzt? Ich bin immer mal wieder auf Statistiken gestoßen, die belegen, dass wir Deutschen wirklich ganz viel über den Nationalsozialismus wissen, aber über unsere Großväter und erst recht über unsere Großmütter wissen wir kaum etwas. Wir können uns, den Zahlen nach, kaum vorstellen, dass sie in irgendeiner Weise in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Die Zahlen sind erschütternd, und andererseits kennen wir die historischen Fakten alle ganz gut und wissen, dass es eigentlich nicht sein kann. Es gibt ein Tabu in den Familiengeschichten.

Video:
Susanne Beyers „Kornblumenblau“: Spurensuche der Familiengeschichte (6 Min)

Sie haben eine umfangreiche und aufwendige Recherche gemacht. Am Ende musste vieles letztlich doch auch ungeklärt und im Bereich des Wahrscheinlichen bleiben. Was haben Sie alles gemacht? Sie sind in Archive gefahren, waren im Bundesarchiv, haben mit Zeitzeugen gesprochen und einen Stammbaum erstellt. Was haben Sie noch unternommen?

Beyer: Ja, ich wollte wirklich so vorgehen, wie alle vorgehen können. Ich höre ganz oft, dass Leute sagen, ich würde schon gerne genauer wissen, was die Großeltern gemacht haben. Aber wie soll ich das noch herausfinden? Man kann zum Beispiel Gentests machen, um etwas über Herkunft herausfinden zu können. Ich habe es nicht gemacht, weil die ein bisschen unseriös sind und weil sich die Nazis – für meinen Geschmack – auch zu sehr für Herkunft interessiert haben. Aber auch im naturwissenschaftlichen Bereich der Biologie kann man sehr tief reingehen, wenn man will. Zeitzeugengespräche sind ganz wichtig, weil sich darüber auch Gefühle vermitteln. Die Geschichte wird sehr farbig.

Ich würde immer empfehlen, an Orte zu fahren, weil man Bilder bekommt, selbst wenn die Orte erst einmal klein und unbedeutend wirken. Wenn man dort ist, sieht man, wie sehr Deutschland noch mit diesem Nationalsozialismus verwoben ist. Meine Großeltern haben in einer Straße gewohnt, die hat immer noch Gaslaternen, der Straßenzug sieht ganz ähnlich aus wie in den Fotoalben. Ich würde sowieso auch tief in Fotoalben reingehen, denn man kann sich Abzeichen angucken und deren Bedeutung im Internet herausfinden.

Es gibt viele Uniformbilder. Dann kann man anhand der Abzeichen sehen, in welchem Dienstgrad der Großvater gekämpft hat. Wenn der Großvater sowieso in der Wehrmacht war, kann man über das Bundesarchiv ganz viel herausfinden, in welcher Einheit er gekämpft hat, dann weiß man, was die Einheit an welchem Ort gemacht hat. Man kann sehr oft herausfinden, ob er nun an der rechten oder linken Schulter angeschossen wurde und in welchem Lazarett er war. Dieses Ungetüm Wehrmacht wird über Familiengeschichten lesbar und erfahrbar.

Ich habe meine Arbeit zweigeteilt. Was kann man historisch finden? Und dann habe ich auch geguckt, wie wirkt sich das, was ich herausgefunden habe, auf mich selbst aus. Da habe Einiges ausprobiert. Ich habe eine Familienaufstellung gemacht. Man stellt dann Großvater, Mutter und sich selbst auf und guckt sich die Dynamiken an. Ich habe Fragezeichen an die Methode, aber ich habe mir dadurch auch einiges ganz gut vorstellen können. Dann gibt es Gesprächsseminare für die Nachkommen der Kriegsgeneration, also von Leuten, die sich oft auch mitschuldig fühlen, was ich tatsächlich auch tue. Darüber kommt man auch weiter.

Dann habe ich mich mit Körperarbeit beschäftigt und mit der Frage, wie wird man diese Gefühle der Mitschuld, die man hat, eigentlich wieder los, oder wie ordnet man sie? Ich bin weit über die historische Forschung hinausgegangen, weil ich wirklich glaube, es gibt diese Tabus und dieses Schweigen über die Großeltern, weil man da emotional verkantet ist. Deswegen reicht es nicht aus, sich nur über Archivalien zu beugen.

Das Gespräch führte Claudia Christophersen. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.

Eine Frau mit einer dunklen Brille und einem schwarzen Oberteil schaut lächelnd nach vorne.

Die Intendantin verlässt das Staatstheater Braunschweig. Im Gespräch blickt sie zurück – auch auf ihren Kampf in der Männerdomäne.

Mehrere Menschen auf einer Bühne im Gespräch, davon links eine Frau, daneben drei Männer.

Der Pianist und Komponist schlägt als Porträtkünstler des SHMF Brücken zwischen Ost und West. Ein Gespräch über Klang, Musik und Kulturen.