Ab Mitte Juli 1945 fand in Potsdam vor der Toren Berlins die dritte und letzte Konferenz der „Großen Drei“ statt. Hier wurde verhandelt, was 45 Jahre lang Europa und die Welt prägte – in einem hochmodernen, allerdings äußerlich völlig unpassenden Gebäude.
Very british – und vielleicht viel zu britisch? Das mag sich der sowjetische Innenminister Sergej Kruglow gedacht haben, als er im Juni 1945 das Schloss Cecilienhof im Neuen Garten von Potsdam inspizierte. Denn das Gebäude entsprach mit seinen hohen Spitzgiebeln und dem Fachwerkobergeschoss genau dem Tudorstil englischer Landhäuser. Die Delegation der Regierung Seiner Majestät George VI. würde sich hier sicher wohlfühlen. Gastgeber der Potsdamer Konferenz war aber Stalin, denn der Tagungsort der dritten Konferenz der Regierungschefs der Anti-Hitler-Koalition lag in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands.
Also ließ Kruglow, den der US-General Floyd L. Parks als „Stalins Sicherheitschef“ wahrnahm, auf dem üppigen Grün im Ehrenhof des Schlosses kurzerhand einen großen roten Stern aus Geranien pflanzen. Er sollte die Gäste aus Großbritannien und den USA Mitte Juli 1945 daran erinnern, wo die Konferenz stattfand: im sowjetischen Machtgebiet.
Die Vorauskommandos der beiden westlichen Delegationen hatten andere Sorgen als diesen brachialen Blumengruß: Sie interessierten sich für die angemessene Unterbringung ihrer Diplomaten und die Sicherheit von US-Präsident Harry S. Truman und des britischen Premierministers Winston Churchill. General Parks stellte nach einigen Diskussionen fest, dass der Garten um Cecilienhof ausreichend geschützt werden konnte, dass in näherer Umgebung akzeptable Unterkünfte für die wenigstens 450 Mitglieder der US-Delegation lagen – und dass Truman mit dem Motorboot von seiner Unterkunft am Griebnitzsee zum Schloss gebracht werden könnte.
Warum aber sah Cecilienhof aus wie ein großzügiges britisches Landhaus? Das beschäftigte Parks offensichtlich nicht; jedenfalls enthalten seine Berichte nichts dazu. Auch von prominenten britischen Teilnehmern ist keine explizite Äußerung bekannt. Sir Alexander Cardogan, der distinguierte oberste Beamte des Foreign Office, schrieb allerdings (wenig diplomatisch, dafür privat) über das Schloss an seine Frau: „Es steht in einem wunderschönen Park, aber das Gebäude selbst ist ziemlich hässlich.“
Das ungewöhnliche Gebäude, in dem Weltgeschichte geschrieben wurde, weil sich hier bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Gegensätze zwischen den Verbündeten USA und UdSSR als unüberbrückbar erwiesen und die Umrisse des künftigen Kalten Krieges erstmals erkennbar wurden, ist der jüngste Prunkbau der Hohenzollern. Und zugleich einer der interessantesten.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II., selbst Sohn einer britischen Prinzessin, hatte sich 1912 entschlossen, seinem Erben eine großzügige Residenz in Potsdam errichten zu lassen. Hier sollten, so der Plan, auch künftig alle Thronfolger wohnen. Trotzdem gab der Monarch seinem Ältesten freie Hand bei der Gestaltung des Schlosses. Kronprinz Wilhelm, sehr anglophil und mit einem Faible für die Lebensweise der britischen Aristokratie, wünschte sich einen Bau im Tudorstil.
Den allerdings musste der auserwählte Baumeister, Paul Schultze-Naumburg, erst einmal selbst studieren. Der vielseitige Künstler, der malte und Skulpturen schuf, Inneneinrichtungen entwarf und an Hochschulen lehrte, hatte zwar bereits einige großzügige Landhäuser entworfen, aber eben nicht in diesem Stil. Also schickte Graf von Bismarck-Bohlen, der Hofmarschall des Kronprinzen, den Architekten im Herbst 1912 auf eine ausgedehnte Studienfahrt – und begleitete Schultze-Naumburg, den er persönlich dem Kronprinzen empfohlen hatte, gleich selbst durch große Teile von England, Schottland und Wales. Natürlich wurde die Fortbildungsreise aus Steuergeldern bezahlt.
Offensichtlich lernte Schultze-Naumburg viel auf dieser Tour, denn ihm gelang ein Meisterwerk des Understatements: Von außen wirkt Cecilienhof für eine königliche Residenz beinahe bescheiden, ist jedoch innen mit 176 Zimmern und dem zweigeschossigen Festsaal angemessen großzügig. Der Baumeister ist heute weitgehend vergessen – dabei hat Schultze-Naumburgs Leben etwas Exemplarisches für den Weg Deutschlands von der aufstrebenden jungen Großmacht in die Katastrophe des Dritten Reiches.
Der 1869 geborene Sohn des Porträtmalers Gustav Adolf Schultze verfügte über großes Zeichentalent. Er studierte Kunst, auch einmal zwei Semester Architektur, doch sein Interesse galt von Beginn an der umfassenden Gestaltung von Innenräumen: Interieurs, Möbel, Stoffe und Gemälde waren ihm genauso wichtig wie die (äußere) Architektur eines Gebäudes.
Mit diesem Anspruch gehörte Paul Schultze-Naumburg zu den führenden Kunsttheoretikern der Jahrhundertwende: Er wandte sich sowohl gegen künstlichen Historismus als auch gegen die Vorformen des nüchternen internationalen Stils. Zugleich profilierte er sich als Mitbegründer des renommierten Deutschen Werkbundes. Ziel dieses Bundes war eine Verbindung von moderner Technik und traditionellen Formen, die sich in die umgebende Landschaft einschmiegen sollten. Den im Wilhelminismus typischen Eklektizismus lehnte der Werkbund ab.
Schultze-Naumburg zählte von Beginn an zu den konservativen Mitgliedern des Bundes; für sein Verständnis von Gestaltung bürgerte sich der Begriff „Heimatschutzstil“ ein. Es handelte sich um eine „Art traditionalistischer moderater Avantgarde“, urteilte der Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani.
In seiner eigenen Zeitschrift „Kulturarbeiten“ erwies sich Schultze-Naumburg als scharfzüngiger, kompromissloser Kritiker jedes abweichenden Stilempfindens. Gleichzeitig entwickelte er sich zum begehrten Gestalter von Landhäusern für reiche Bauherren. Seine Entschiedenheit ließ ihn als geeigneten Architekten für das Schloss des deutschen Kronprinzen erscheinen. Er hatte wie sein Werkbund-Kollege Hermann Muthesius nichts dagegen, im britischen Stil zu bauen, solange es nur rein britischer Stil war. Trotzdem wurde Cecilienhof hochmodern eingerichtet und ausgestattet. Als es mitten im Ersten Weltkrieg 1917 bezogen werden konnte, war es von allen Hohenzollernschlössern mit Abstand das komfortabelste.
Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Schultze-Naumburg, wie große Teile des Bürgertums, revanchistischem Gedankengut zu und veröffentlichte rassistische Kulturtheorien. 1930/31 besuchte der NSDAP-Chef Adolf Hitler ihn mehrfach – zu dieser Zeit war der Baumeister Rektor der an die Stelle des vormaligen Bauhauses getretenen Hochschule für Baukunst, bildende Künste und Handwerk in Weimar.
Schultze-Naumburgs Engagement für die NSDAP wurde mit einem (gut bezahlten, aber bedeutungslosen) Mandat im Reichstag belohnt. Doch zugleich begann sein Stern zu sinken: Hitler fielen seine Entwürfe zu bescheiden aus; es kam zum Eklat. Hitler befand 1935, der Umbau der Nürnberger Oper „durch Schultze-Naumburg ist misslungen. Der ganze Umbau wurde verkorkst“.
So verbrachte der ehemalige Vordenker rassistischer Baukunst die zweite Hälfte der 1930er-Jahre weitgehend kaltgestellt. 1940 wurde er aus dem Direktorenamt in Weimar gedrängt. Er überstand den Krieg unversehrt, musste 1946 allerdings seine Villa in Weimar räumen und zog sich, vereinsamt, beinahe erblindet und verarmt, völlig zurück. Er fühlte sich als Opfer Hitlers und nicht als (kulturpolitischer) Mittäter. Kurz vor seinem 80. Geburtstag starb Paul Schultze-Naumburg am 19. Mai 1949 in Jena.
Von seinen Werken ist heute nur noch Schloss Cecilienhof der Öffentlichkeit einigermaßen vertraut, obwohl auch eine ganze Reihe anderer seiner Bauten die Zeitläufte überstanden haben: Schloss Freudenberg in Wiesbaden, das Haus Ithaka in Weimar, der Waldhof Hackhausen in Solingen oder die Villa Charlottenhof in Essen-Kettwig zum Beispiel. Trotz seiner formal ungenügenden Ausbildung war er ein fähiger Architekt, der sich dem unpersönlichen internationalen Stil entgegenstellte. Gleichzeitig aber büßte er die Fähigkeit zur Selbstkritik ein und geriet in „völkische“ Abgründe. Das Gewirr von Begabung, Verführung und Verstrickung in den Nationalsozialismus macht sein Leben sehr deutsch – obwohl sein bekanntester Bau tatsächlich very british ist.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen der Nationalsozialismus, die SED-Diktatur, linker und rechter Terrorismus sowie Verschwörungstheorien.