Als unansehnliche Betonbastion, so präsentierte sich das nach einem früheren Vereinspräsidenten benannte Estadio Santiago Bernabéu des nach eigener Wahrnehmung weltbesten Fußballvereins Real Madrid. Früher galt es als mythischer Ort, doch Anspruch und architektonische Wirklichkeit passen nicht mehr zusammen, jedenfalls nach Ansicht des mächtigen und ehrgeizigen Vereinspräsidenten Florentino Pérez. Die Baumaßnahmen an der 1944 bis 1947 errichteten Fußballarena, die Aufstockung 1954, die Teilüberdachung für die Weltmeisterschaft 1982, die Verdoppelung der Bauhöhe und Erweiterung auf 106.000 Plätze im Jahr 1994 und schließlich die Ertüchtigung auf UEFA-Standard 2006 waren nicht von baukünstlerischer Eingebung beseelt.
Der schwere Sichtbeton-Pfeilerbau mit wulstiger Dachaufkantung und für Passanten hermetisch geschlossenem Erdgeschoss wurde an den Ecken von vier wehrhaft anmutenden Rundtürmen flankiert, den Wendelrampen zu den oberen Rängen. Die prekäre Erschließungssituation in der beengten Innenstadt sorgte regelmäßig für Unmut. Insgesamt war die Bausubstanz materiell und optisch in die Jahre gekommen, und so nahm sich Präsident Pérez für seine Amtszeit vor, durch einen gründlichen Um- und Neubau „die Geschichte des Vereins zu verändern“.
Wenn man so viel Geld in die Hand nimmt, von 1,1 Milliarden Euro ist die Rede, warum dann kein kompletter Neubau an der Peripherie, durch Autobahn und öffentlichen Nahverkehr bestens erschlossen, wie es Bayern München mit seiner Allianz Arena draußen in Freimann gemacht hat? Der wäre sicherlich billiger zu haben gewesen, doch Verkehrsmisere hin oder her, Real ist ein traditionsbewusster Verein und blieb am eingeführten Standort im Norden der Stadt an der großen Nord-Süd-Achse Paseo de la Castellana.
Nur große Namen kamen als Architekten in Frage
Einen langwierigen Architektenwettbewerb ungewissen Ausgangs wollte man sich nicht antun, sondern gleich große Namen verpflichten. Vier Pritzker-Preisträger sollten anfangs um den Auftrag konkurrieren. In der Folge kam es zu Arbeitsgemeinschaften. Die Basler Herzog & de Meuron gingen mit Rafael Moneo zusammen, Norman Foster mit dem Spanier Rafael de la-Hoz und das spanische Büro Estudio Lamela, gewissermaßen die Hausarchitekten des Bernabéu, mit den international ausgewiesenen Stadionspezialisten Populous. Die deutschen Architekten gmp von Gerkan Marg und Partner (Hamburg/Berlin), ausgewiesene FIFA-Stadionexperten, traten mit den örtlichen Büros L35 Arquitectos und Ribas & Ribas an und erhielten mit ihrem Entwurf den Zuschlag.
Wer sich heute dem Bauwerk nähert, wird nicht auf die Idee kommen, dass hinter der futuristischen Edelstahlkarosserie das alte Stadion steckt. Der Kernbau mit seinem extrem steilen obersten Rang blieb erhalten, weil ein Neubau nach aktuellen Vorschriften zu Einbußen an Sitzplätzen geführt hätte. Zu bauen gab es trotzdem genug. Die flachere obere Osttribüne wurde neu aufgeführt, um den Stadionrand auf einheitliche Höhe zu bringen. Die beiden Betonrampentürme an der Westseite wurden durch Neubauten aus Stahl ersetzt, die nun weniger Platz greifend an den Baukörper herangerückt wurden. Sie tragen einen gewaltigen Stahlfachwerkträger, der entlang der Längsseite spannt und an dem das zweigeschossige Real-Museum abgehängt ist. Der enorme Aufwand wurde betrieben, um unterhalb des Museums das Gebäude einrücken zu können und einen Vorplatz an der Castellana zu gewinnen.
Der Kernbau mit seinem extrem steilen obersten Rang blieb erhalten, weil ein Neubau nach aktuellen Vorschriften zu Einbußen an Sitzplätzen geführt hätte.Imagen Subliminal
Platz gewinnen war auch an der Ostseite das Ziel, wo einige periphere Anbauten abgerissen wurden, deren Nutzungen – Restaurants, Fanshop, Museum – von gmp in den Stadionkörper integriert wurden. Hier entstand eine Galerie vor dem Erdgeschoss des Stadions mit Zugängen zu den Restaurants und zum neuen Fanshop sowie eine Parkanlage an der Einfahrt zur Tiefgarage. Die Aufwertung des öffentlichen Raums rings um das Stadion lag nicht nur im Interesse des Vereins, sondern war auch Gegenstand vieler Verhandlungen mit der Stadtverwaltung, wenn es um Zugeständnisse beim Bauvorhaben ging, es entwickelte sich ein Geben und Nehmen.
Schwerathletik statt Eleganz für die Dachkonstruktion
Ein Stadion auf internationalem Premiumniveau, in dem auch kulturelle Großveranstaltungen stattfinden sollen, ist ohne mobiles Dach nicht konkurrenzfähig. Beim Bernabéu ist es eine über Fachwerkträger gespannte textile Dachhaut. Die Träger sind an der Schmalseite als Paket geparkt und werden bei Bedarf nacheinander unter die Dachöffnung gefahren. Wenn sie in Position sind, heben sie sich hydraulisch, um das Mobildach auf das Niveau der übrigen Dachfläche zu bringen, ein erstaunliches Stück Maschinenbaukunst.
Das Gebot der Nachhaltigkeit blieb unbeachtet. Schwerathletik ist bei der Dachkonstruktion am Werk. Auf nicht eben elegante Weise hat man die gewaltigen Kräfte mit einem ebenso gewaltigen Labyrinth an Trägern und Rohren bewältigt. Eine spanische Firma war damit beauftragt worden, entgegen dem Vorschlag von gmp, eine von sbp schlaich bergermann partner entworfene leichte Seilnetzkonstruktion zu wählen, die einen Großteil des Stahlverbrauchs erspart hätte. Wie bei vielen anderen Teilgewerken des Bauwerks gab es wohl baufremde Gründe für die Auswahl beteiligter Firmen.
Die dynamistische, alles umkleidende Lamellenfassade prägt das Gebäude.Imagen Subliminal
Kaum weniger aufwendig und weltweit einmalig ist die Tiefgarage für den Fußballrasen. Wenn die Dachöffnung eines Stadions zur Belichtung und Beregnung des Grases zu klein ist, muss die strapazierte Spielfläche oft ausgewechselt werden. Oder der Rasen wird wie auf Schalke als Ganzes auf Schienen aus dem Stadion geschoben, damit er sich nebenan erholen kann.
Real Madrid, das nicht auf den Cent schauen muss, nahm 225 Millionen Euro in die Hand, um eine andere Lösung zu realisieren. Das Spielfeld wurde in sechs Längsstreifen geteilt, die nacheinander per Lift in die sechsgeschossige Tiefgarage gefahren werden. Das unterirdische Gewächshaus von kathedralhaften Ausmaßen ist für Besucher tabu, denn wie in einer Intensivstation vermeidet man den Eintrag von Schädlingen und Pilzen. Der Rasen soll sich bei künstlicher Beleuchtung und Bewässerung ungefährdet regenerieren.
Terrassenumgang mit Blick auf die Stadt
Das Bernabéu unterscheidet sich von anderen Stadien, speziell denen von gmp, durch die ästhetische Abstinenz der Baustruktur. Statt von Architekten und Ingenieuren wohlgestalteten Tragwerken und Dachkonstruktionen, die eine ästhetische Großform bilden, gibt es hier die alles gnädig umhüllende Karosserie. Kakophonie erlebt der Besucher freilich hinter der Fassade, wenn er über die Rampen, Treppenkaskaden und Rolltreppen seinem Sitzplatz in der Arena zustrebt.
Die Architekten von gmp waren damit nicht beauftragt, auch nicht mit Planung und Ausführung von Innenausbau, Verkaufseinheiten, Lounges, Funktionsräumen und Garderoben, die noch im Gang sind. Mit einer für gmp ungewöhnlichen formalen Kühnheit entwarfen sie das große Ganze und die dynamistische, alles umkleidende Lamellenfassade, die das Gebäude prägt. Die 14.000 gebogenen Edelstahllamellen der Außenhaut wurden parametrisch berechnet und individuell per CNC-Fräse gefertigt. Keine hat exakt die Form der anderen. Zurzeit entwickelt man noch die dynamische LED-Außenbeleuchtung, um das Bauwerk abends effektvoll in Szene setzen zu können. Oben, unter dem Dach, gibt es einen Terrassenumgang mit Blick über die Stadt.
Das Bernabéu-Stadion in seiner neuen Version liegt wie ein riesiger, einen ganzen Häuserblock einnehmender Findling beherrschend im Quartier, ein technoides Artefakt, das jegliche Zwiesprache mit der Häuserfamilie in seiner Umgebung verweigert. Es beansprucht uneingeschränkte Autonomie, wie eine mittelalterliche Kathedrale sich in ihrer eigenen Sphäre über das Häuser- und Gassengewirr erhebt, wie ein absolutistisches Residenzschloss im Zentrum radialer Straßenachsen totale Dominanz ausstrahlt.
Davon, dass die Anwohner diesen Statusanspruch nicht unwidersprochen hinnehmen, künden Transparente an Balkonbrüstungen. „Bernabéu si, conciertos no“, ist dort zu lesen. Die Nebenwirkungen der Verwandlung der legendären Fußballfestung in eine multifunktionale Eventmaschine sind in Madrid ein großes Thema, zu laut tönten Taylor Swift und andere Musikstars während ihrer Großkonzerte in die Nachbarschaft. Jetzt muss Schallschutz nachgebessert werden. Mit zusätzlichen Glasscheiben auf dem Terrassenrundgang wird nun versucht, den Innenraum akustisch abzuschotten.
Diese Königlichen regieren die Stadt
Die Kardinalfrage, die sich beim ikonischen Projekt Bernabéu stellt, ist die nach der Angemessenheit. Steht ihm die Position zu, die es einnimmt? Ist der Fußball die neue Religion mit den Fußballstars als den angehimmelten neuen Heiligen? Sind die „Königlichen“, wie man Real in Deutschland nennt, nicht schon selbst die Könige, mächtiger, angesehener und vor allem populärer als das Königshaus selbst? Oder ist es schlicht der Mammon, das Unternehmen mit Milliardenumsatz, das hier in der Stadt seine Macht und Herrlichkeit inszeniert?
Die Frage beantwortet sich wohl von selbst. Der vielfache Champions-League-Gewinner mobilisiert die Massen. „Los Galácticos“, so ein weiteres Epitheton Reals, regieren die Stadt und mit ihnen Vereinspräsident Florentino Pérez, der es sich nicht nehmen ließ, den Verein durch ein gleißend-futuristisches, das Stadtbild beherrschendes Monumentalbauwerk gebührend in Szene zu setzen.
Mit einer gewissen Berechtigung, denn anders als die „weißen Elefanten“, die überdimensionierten Prestigeprojekte der WM-Stadien in Brasilien, Südafrika oder Qatar, die seit dem Großereignis kaum mehr gebraucht werden, ist das Estadio Bernabéu ein florierendes Wirtschaftsunternehmen. Real schafft es, das Stadion nicht nur an 30 Spieltagen lukrativ zu nutzen, auch das ein Vorteil der innenstadtnahen Lage. An 300 Tagen im Jahr finden Spiele, andere Sportereignisse sowie Konzerte, Messen und dergleichen statt. Zudem buchen fast 1,4 Millionen Besucher die Besichtigungstour und zahlen 35 Euro Eintritt. 120 Millionen Euro Umsatz verzeichnet der Fanshop, in dem die Tour endet. Das neue Bernabéu ist zweifellos ein Hotspot der spanischen Hauptstadt und ein Touristenmagnet, aber auch gebautes Entertainment, dem man eine bedeutende Position in der spanischen Metropole nicht absprechen kann.