Im Süden Syriens kommt es trotz einer zuvor vereinbarten Waffenruhe offenbar zu neuen Auseinandersetzungen. Die Beduinen starteten eigenen Angaben zufolge erneut eine Offensive gegen drusische Kämpfer. Die Beduinen fühlten sich an die Feuerpause
nicht gebunden, denn diese gelte nur für die syrische Armee, sagte ein Kommandeur der Beduinen der Nachrichtenagentur Reuters. Ziel sei die Befreiung von Beduinen, die von
drusischen Kämpfern in den vergangenen Tagen gefangen genommen
worden seien.
Die syrische Präsidentschaft beschuldigte drusische Kämpfer unterdessen, die Waffenruhe verletzt zu haben. „Gesetzlose Kräfte“ hätten durch „grausame Gewalttaten“ gegen das Waffenruheabkommen verstoßen, hieß es in einer Erklärung der Präsidentschaft. Die Verbrechen der Kämpfer stünden in völligem Widerspruch zu den Vermittlungsbemühungen, gefährdeten den inneren Frieden direkt und führten zu „Chaos und einem Zusammenbruch der Sicherheit“, teilte die Präsidentschaft mit. Weiter warnte sie vor „einer anhaltenden offensichtlichen Einmischung Israels in die inneren Angelegenheiten Syriens“.
Zuvor hatte die syrische staatliche Nachrichtenagentur Sana gemeldet, Israel habe in der Nähe der syrischen Stadt Suweida einen Luftangriff durchgeführt. Nähere Details waren zunächst nicht bekannt.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan warf Israel unterdessen vor, zu versuchen, den Waffenstillstand in Syrien zu sabotieren. Die Türkei werde nicht zulassen, dass Syrien geteilt oder seine multikulturelle Struktur und territoriale Integrität beschädigt werde, sagte Erdoğan nach einer Kabinettssitzung. Das Vorgehen Israels zeige, dass es keinen Frieden wolle. Zuvor hatte er mit dem syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa über die israelischen Angriffe auf Damaskus gesprochen.
© Lea Dohle
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Die syrischen
Regierungstruppen hatten sich in der Nacht zum Donnerstag aus der
Drusen-Stadt Suweida zurückgezogen. Die syrische Regierung hatte die Truppen am Montag in die Region
abkommandiert, um Kämpfe zwischen der religiösen Minderheit der Drusen und den sunnitischen Beduinen zu
beenden. Diese gerieten dann jedoch selbst in Gefechte mit den
Drusen-Milizen. Israel griff daraufhin nach eigenen Angaben zum Schutz der drusischen
Minderheit ein. Am Mittwoch hatte die israelische Luftwaffe auch Ziele
in der Hauptstadt Damaskus bombardiert, unter anderem auf dem Gelände
des Verteidigungsministeriums, wo das militärische Hauptquartier liegt,
sowie ein Ziel in der Nähe des Präsidentenpalastes.
Mehr als 500 Menschen getötet
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bei den Kämpfen mehr als 500 Menschen getötet, darunter viele Zivilisten. Die Beobachtungsstelle warf den syrischen
Regierungstruppen schwere Menschenrechtsverletzungen vor,
darunter die Hinrichtung von 83 drusischen Zivilisten. Ihre Leichen
seien an Straßenrändern hinterlassen worden, teils gefesselt oder
verbrannt.
Was ist die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte?
Auch nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad ist der Zugang zu verlässlichen Informationen über Entwicklungen in Syrien weiterhin schwierig. Dies gilt insbesondere für Kampfgeschehen. Anhänger des gestürzten Diktators, die neue Übergangsregierung unter der Führung islamistischer Milizionäre oder kurdische Einheiten im Norden des Landes sind nur drei der vielen Fraktionen im Land, die jeweils eigene Interessen verfolgen und ihre Sichtweise verbreiten.
Viele westliche Medien berufen sich daher weiterhin auf die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights, SOHR). Die Organisation wurde 2006 von dem Exilsyrer Rami Abdelrahman (bekannt auch unter seinem bürgerlichen Namen Osama Suleiman) in Großbritannien gegründet. Nach Beginn des Bürgerkriegs war ihr Ziel, die Zahlen von Verletzten und Getöteten möglichst genau zu erfassen sowie Informationen über Menschenrechtsverletzungen zu sammeln.
Quelle für die von der Beobachtungsstelle gesammelten Informationen waren und sind nach wie vor Aktivisten vor Ort – nach eigenen Angaben sollen es Hunderte sein. Die Informationen der Aktivisten werden von Abdelrahman sowie von seinen Kontaktleuten in Syrien gesammelt, im Anschluss so gut wie möglich überprüft und schließlich veröffentlicht.
Abdelrahman gilt als umstrittene Figur, von verschiedenen Seiten wurde ihm in der Vergangenheit die Verbreitung von Fehlinformationen vorgeworfen. Internationale Menschenrechtsorganisationen halten die von der Beobachtungsstelle zur Verfügung gestellten Informationen jedoch für überwiegend verlässlich. 2020 erhielt Abdelrahman für seine „herausragende Leistung, Menschenrechtsverletzungen in Syrien akribisch zu dokumentieren“, den Sonderpreis beim jährlich verliehenen Stern-Preis (ehemals Nannen Preis).
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
will keine syrischen Regierungstruppen südlich der Hauptstadt Damaskus
zulassen. „Wir werden syrischen Streitkräften nicht erlauben, in die
Region südlich von Damaskus einzudringen“, sagte Netanjahu
in einer Videoansprache. Eine weitere rote Linie sei „der Schutz
unserer Brüder, der Drusen“. Israel werde weiterhin militärische Mittel
einsetzen, um seine roten Linien durchzusetzen, sagte Netanjahu.
Aufgrund des Eingreifens des israelischen
Militärs in Syrien sei eine Waffenruhe in Kraft getreten und die
syrischen Streitkräfte hätten sich nach Damaskus zurückgezogen, sagte Netanjahu weiter. Die Feuerpause sei „mit Stärke erreicht worden. Nicht durch Bitten, nicht durch Appelle – mit Stärke“, sagte er.
Der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa warf Israel vor, das Land spalten zu wollen. Er versprach, die
drusische Bevölkerungsminderheit zu schützen. Al-Scharaa führte den
Truppenrückzug auf die Vermittlung der USA, arabischer Staaten
und der Türkei zurück, die „die Region vor einem ungewissen
Schicksal bewahrt“ habe.
Die Drusen sind eine
arabische Religionsgemeinschaft, die aus dem Islam
hervorgegangen ist, sich aber nicht als muslimisch betrachtet. Drusen leben auch auf israelischem Gebiet. Viele dienen
dort freiwillig im Militär. Die sunnitischen Beduinen stehen seit Jahrzehnten in Konflikt mit den Drusen.
Syrien
Syrien und Israel:
Gesprengter Fortschritt