Cover Chiara Valerio, "Blinde Flecken"

Stand: 18.07.2025 06:00 Uhr

Mit „Blinde Flecken“ hat Chiara Valerio eine vielschichtige und spannende Geschichte über das vermeintlich Wahre im Sichtbaren und über das Wahrhaftige im Unsichtbaren geschrieben.

von Claudia Cosmo

Jeder kannte Vittoria, aber niemand wusste etwas über sie. In den 1970er Jahren taucht sie in dem kleinen Ort Scauri auf, der rund 80km nördlich von Neapel liegt. Sie kauft sich ein Haus und ein Boot, arbeitet in der Apotheke und lebt mit der viel jüngeren Mara zusammen, die eine Hunde-und Katzenpension aufgemacht hatte. Vittoria und Mara waren von Leuten umgeben, die das als unkonventionell abtaten und sich lieber an ihren althergebrachten Gewissheiten orientierten.

Zwischen diesen beiden Weltsichten eingepfercht lebt Chaira Valerios Erzählerin: Lea Russo. Sie ist Anwältin und war mit Vittoria seit vielen Jahren befreundet. Doch jetzt, es sind mittlerweile die 1990er-Jahre, ist Vittoria tot:

Ich war häufig bei Vittoria gewesen und kannte die Badewanne, in der sie gestorben war, sie war schlichtweg nicht zu übersehen, weil das Bad am Ende eines langen Flurs der Haustür direkt gegenüberlag.

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Ein Aufruf zur Suche nach Antworten

Chiara Valerio hat ihren Roman „Blinde Flecken“ an ihrem Heimatort Scauri angesiedelt. Scauri steht repräsentativ für all die kleinen italienischen Orte, die nach außen hin ein perfektes Bild abgeben, letztendlich aber aus der Not eine Tugend machen. Was sich auch im Stadtbild niederschlägt:

Hier haben sich die Vermessungstechniker kreativ ausgetobt und ihren Frust darüber, das Architekturstudium nicht abgeschlossen zu haben, abgebaut.

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Frust schiebt auch Lea. Denn sie ist entsetzt darüber, dass sich niemand darum zu scheren scheint, wie es zu Vittorias Tod in der Badewanne kommen konnte. Im Ort spricht man von einem schicksalsbedingten Unglück. Es ist ein Leben mit Scheuklappen, was die Autorin Chiara Valerio in ihrem Roman kurz und bündig auf den Punkt bringt: Ist im Ort nichts bekannt, ist auch nichts passiert! Doch damit will sich Lea nicht zufrieden geben.

Ich musste dringend wissen, warum Vittoria gestorben war.

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Vittoria war schon zu Lebzeiten geheimnisvoll. Doch ihr Haus war immer offen für alle. Auch Lea war ein gern gesehener Gast und unternahm lange Spaziergänge mit Vittoria, die Lea darauf aufmerksam machte, dass sie wegen der Liebe zur Familie auf ihr persönliches und berufliches Fortkommen auf keinen Fall verzichten sollte

Familie und das Streben nach mehr

Das hat mit Liebe nichts zu tun, Lea, sondern mit Besitzdenken, mit dem Markieren eines Reviers. Es beginnt schon in der Familie. Ich sage nur, dass wir alle, weil wir in Familien gelebt haben, wissen, dass Skrupel bei dem Gedanken entstehen, dass man noch ein anderes Leben hat, egal, welches.

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In Chiara Valerios Roman geistert Vittoria auch als Tote durch Leas Gedanken- und Gefühlswelt. Allmählich muss sie sich eingestehen, über die vielen Jahre hinweg tiefe Gefühle für Vittoria entwickelt zu haben.

Ich erkannte mich nicht mehr wieder und wollte, dass mir jemand sagte, wer ich war. das, was du nicht siehst.

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Vittorias wahres Gesicht

So ist es Vittorias Ehemann, der im Zuge der Testamentseröffnung in Scauri auftaucht und der staunenden Lea ein ganz anderes Bild vermittelt: Er beschreibt Vittoria als Verführerin, die mit jedem und jeder spielte. Eine dunkle Seite, die Lea vielleicht nur erahnt, aber stets verdrängt hatte.

Mit „Blinde Flecken“ hat Chiara Valerio eine vielschichtige und spannende Geschichte über das vermeintlich Wahre im Sichtbaren und über das Wahrhaftige im Unsichtbaren geschrieben. Es ist auch ein Roman, der dem Wunsch nach Veränderung das Dramatische zugesteht. Und die Toten- so beschreibt es Chiara Valerio in ihrem Nachwort- sind immer mitten unter uns.

Cover Chiara Valerio, "Blinde Flecken"

Blinde Flecken

von Chiara Valerio

Seitenzahl:
256 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Kein & Aber
ISBN:
978-3-0369-5078-5
Preis:
24 €

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Romane