Die Pflegebranche steht vor massiven Einschnitten, immer wieder müssen Einrichtungen schließen. Ein Experte und Insider klärt auf, woran das liegt – und sagt, wie deutlich Reformen des Systems ausfallen müssten.
Es sind keine guten Zeiten für Altenheime. Bundesweit sind laut Arbeitgeberverband Pflege seit Anfang 2023 über 1200 Einrichtungen von Insolvenzen, Schließungen oder anderen Angebotseinschränkungen betroffen, auch in einer reichen Stadt wie Hamburg mussten jüngst fünf Einrichtungen schließen. Hans-Jürgen Wilhelm – Soziologe, Wirtschaftsjurist und Autor zahlreicher Fachbücher – beschäftigt sich intensiv mit diesem Thema. Zudem leitete er zehn Jahre lang das Elisabeth-Heim im Hamburger Schanzenviertel, jetzt ist er Geschäftsführer der evangelisch reformierten Stiftung Altenhof am Winterhuder Weg. Was läuft schief in den Altenheimen? Welche Lösungen gibt es?
WELT: Ende 2023 waren in Deutschland rund 5,7 Millionen Menschen pflegebedürftig, von denen 800.000 vollstationär in Pflegeheimen versorgt wurden. Damit hat sich die Zahl pflegebedürftiger Menschen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Wie kann es sein, dass Pflegeheime dennoch in wirtschaftliche Not geraten?
Hans-Jürgen Wilhelm: Sie haben recht, eine zu geringe Nachfrage wie in anderen Märkten ist nicht das Problem der stationären Pflege. Aber die Pflegebranche gehorcht eben nicht den Gesetzen der klassischen Marktwirtschaft. In der Vergangenheit sind zwar Einrichtungen im Gesundheitswesen zunehmend für den freien Markt geöffnet worden, in der Hoffnung, der Wettbewerb werde alles besser und billiger machen. Andererseits wollen wir das Ruder aber doch nicht ganz aus der Hand geben und legen, wie in der Planwirtschaft, Preise oder Personalvorgaben fest. Das ist eine absurde Situation. Wie sollen freier Markt und Konkurrenz funktionieren, wenn den Unternehmen die entscheidenden Werkzeuge, um auf den Markt zu reagieren, nicht zur Verfügung stehen? Und wie soll Qualität entstehen, wenn Unternehmen seit Jahren vor allem um ihr Überleben kämpfen?
WELT: Das müssen Sie erklären.
Wilhelm: Nehmen wir als Beispiel den Personalschlüssel. Abhängig von der Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrem jeweiligen Pflegegrad muss jedes Heim eine Fachkraftquote erfüllen. Das ist gut gemeint, führt aber in der Praxis oft dazu, dass freie Betten aus Mangel an Personal nicht belegt werden können. Um ein Heim angesichts der festgelegten Pflegesätze wirtschaftlich betreiben zu können, braucht man aber eine Belegungsquote von 96 Prozent. Darunter rutscht man in wirtschaftliche Notlagen. Diese Spirale dreht sich immer schneller.
WELT: Aber woher rührt der Personalnotstand? Pflegekräfte verdienen doch inzwischen gut.
Wilhelm: In der Tat. Laut den Arbeitsvertrags-Richtlinien für Einrichtungen der Diakonie Deutschland verdienten examinierte Pflegefachkräfte 2010 im Monat zwischen 2200 und 2450 Euro brutto. Heute liegen die Gehälter zwischen 3750 und 4400 Euro. Die Zahl der Pflegekräfte ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Doch die demografische Entwicklung verursacht ein doppeltes Problem. Zum einen brauchen wir für die Boomer-Generation immer mehr Pflegekräfte. Zum anderen wird durch die Überalterung das Reservoir an jungen Leuten immer kleiner.
WELT: Was kann man abseits der Gehälter noch tun, damit der Beruf attraktiver wird?
Wilhelm: Bei einer Protestaktion vor dem Hamburger Rathaus haben sich einmal Pflegekräfte auf den Boden gelegt, um den Grad ihrer Erschöpfung zu dokumentieren. Ich will das gar nicht kritisch bewerten, aber das Signal lautete: Rettet uns! Doch da wird niemand kommen. Und das Klatschen von Balkonen wie in der Pandemie ist zwar ehrenwert, aber hilft auch nicht weiter. Nein, Pflege kann sich nur selbst helfen und muss dafür viel selbstbewusster auftreten. Ich verstehe nicht, warum sich die Mehrzahl der Hamburger Pflegekräfte gegen die Einrichtung einer Pflegekammer nach dem Modell der Ärztekammern positioniert hat. Und wir müssen auch an regulatorische Vorgaben ran. Warum soll sich ein Arzt die Wunde eines Pflegeheim-Bewohners unbedingt anschauen? Pflegekräfte sind Experten in Sachen Wundversorgung. Das haben sie in ihrer Ausbildung gelernt!
WELT: Viele Heime locken Pflegekräfte mit Begrüßungsprämien. Oder sie zahlen ihren Pflegekräften eine Prämie, wenn sie Kolleginnen und Kollegen von der Konkurrenz abwerben. Legitim?
Wilhelm: Ich kann jeden Heimbetreiber verstehen, der zu dieser Strategie greift, um einen Belegungsstopp für sein Haus zu verhindern. Aber jede Prämie wie etwa ein Smartphone führt nur zu einer schnelleren Fluktuation im System, nicht zu mehr Beschäftigten.
WELT: Vielen Pflegeheimbewohnern und ihren Angehörigen macht der hohe Eigenanteil zu schaffen. In Hamburg liegt er inzwischen bei durchschnittlich 3313 Euro im Monat. Warum ist dieser Eigenanteil geradezu explodiert?
Wilhelm: Weil unsere Kosten immer weiter steigen. Durch die Inflation. Und vor allem durch die schon genannten Gehaltssteigerungen. Pflege ist extrem personalintensiv. Im Altenhof haben wir einen Gesamtetat von zehn Millionen Euro im Jahr, der Anteil der Personalkosten liegt bei 75 Prozent.
WELT: Waren die Privatisierungen vieler Einrichtungen ein Fehler? Der Senat hat die Einrichtungen von Pflegen & Wohnen zurückgekauft.
Wilhelm: Das kommt darauf an, was das Ziel der Privatisierung war. Die Hoffnung war einmal, für Instandhaltungen und Investitionen Geldgeber zu finden. Das ist auch gelungen. Von den damit einhergehenden Konsequenzen schienen aber alle überrascht. Mehr Professionalität tat der Pflege sicherlich gut, aber einige Investoren haben schnell erkannt, dass die großen Gewinne nicht mit dem Betreiben von Pflegeheimen gemacht werden. Und während sich so der Pflegeimmobilienmarkt und der Pflegeträgermarkt rasant entwickelte und immer größere internationale Unternehmen entstanden, stand die Pflege dieser Entwicklung hilflos und gelähmt gegenüber. Wenn Private-Equity-Investoren ausschließlich auf maximales Wachstum setzen, um einen Träger mit mehr Pflegeheimen bei maximalem Gewinn weiterverkaufen zu können, dann wird die Pflege selbst zu einem störenden Statisten im eigenen Markt. Und in diesem Markt ging es lange ausschließlich um Immobilien und schnell wachsende Träger, ohne irgendeinen Nutzen für das Gesundheitssystem selbst. Es ging nie um Pflege!
WELT: Die von Ihnen skizzierten Herausforderungen dürften wachsen, vor allem im Personalbereich. Können die Probleme gelöst werden, indem man noch mehr Geld ins System gibt?
Wilhelm: Zunächst mal sollten wir uns klarmachen, dass unser Gesundheits- und Pflegesystem ein großer Luxus ist, den wir uns nur leisten können, wenn die Wirtschaft gut läuft. Die Erwartungshaltung in Deutschland ist inzwischen immens hoch und steigt mit den wachsenden Pflegekosten. Wir müssen als Gesellschaft endlich die Frage beantworten, wie wir uns als Gesellschaft „Altern“ vorstellen und was wir bereit sind, dafür zu bezahlen. Doch diese Frage wird nicht einmal ernsthaft gestellt, geschweige denn diskutiert. Wir müssen aufhören, Schuldige zu suchen und ehrlich und offen darüber diskutieren, wie gute Pflege in Zukunft für alle Beteiligten leistbar gestaltet werden kann.
WELT: Der Sozialverband SoVD Hamburg sieht eine Pflegevollversicherung als Bürgerversicherung als einzig gangbaren Ausweg aus dem drohenden Pflegenotstand.
Wilhelm: Die Frage ist, was unter einer „Pflegevollversicherung“ zu verstehen ist. Aus meiner Sicht ist eine Pflege, wie wir diese aktuell in stationären Einrichtungen haben, künftig weder wirtschaftlich noch personell gesellschaftlich zu leisten. Wir argumentieren immer noch, als ob wir finanziell wie personell aus dem Vollen schöpfen könnten und es ausschließlich um Fragen der Verteilung gehen würde. Das ist aber schon seit Langem nicht mehr der Fall. Eine Pflegevollversicherung löst weder die Fragen des demografischen Wandels noch die der steigenden Kosten. Die viel wichtigere und grundlegendere Frage lautet: Wie wollen wir in Zukunft gepflegt werden und was ist uns das als Gesellschaft wert?
WELT: In der Tat hat die Pflegeversicherung 2024 ein Defizit von mehr als 1,5 Milliarden Euro gemacht.
Wilhelm: Wir brauchen neue Konzepte und müssen über Themen wie „Verantwortung“ oder „Sicherheit versus Lebensqualität“ diskutieren. Ist es unser Anspruch als Gesellschaft, dass Angehörigen, Verwandten oder Freunden alle Verantwortung durch die Institution „Pflegeeinrichtung“ abgenommen wird? Denn genau das ist der Eindruck, für den das System der stationären Pflege sorgt. Unser Bedürfnis nach Sicherheit oder die Frage nach der Verantwortung, wenn etwas schiefgeht, ist so groß, dass wir nur aus Angst totale Rundum-Institutionen schaffen. Lebensqualität spielt dabei nur die zweite Geige. Das ist nicht nur sehr teuer, sondern auch nicht der Rahmen, in dem ich persönlich alt werden möchte.
WELT: Sie plädieren für einen grundlegenden Systemwechsel.
Wilhelm: Allerdings. Dieses System ist wie ein totes Pferd. Doch statt abzusteigen, flechten wir seit Jahren mit großem Aufwand die Mähne immer wieder neu. Das bringt uns zwar keinen Schritt nach vorne, sieht aber erstmal gut aus und hält das System beschäftigt.
WELT: Was schlagen Sie konkret vor?
Wilhelm: Wir müssen die Sektorengrenzen zwischen ambulant, teilstationär und stationär auflösen und niederschwelligere Angebote schaffen, in denen die Unterstützung und Hilfe von Angehörigen gewollt ist. Ein gutes Beispiel aus meiner Sicht sind hier Demenzdörfer in den Niederlanden oder in Frankreich. Wir brauchen mehr Normalität anstatt Institutionen mit den hohen Sicherheitsanforderungen, die teuer sind und Lebensqualität beeinträchtigen. Darf ich Ihnen ein Erlebnis bei meinem Einstieg in die Altenpflege schildern?
WELT: Gern.
Wilhelm: Eine hochbetagte Dame wollte unbedingt noch einmal rutschen. Ich bin mit ihr zu einem Spielplatz, habe ihr auf die Leiter geholfen, sie ist gerutscht. Mein Team hat mich dafür gefeiert, die Dame war so glücklich. Aber stellen Sie sich vor, sie hätte sich den Fuß gebrochen. Was wäre dann los gewesen? Oder nehmen wir ein so banales Beispiel wie Spiegeleier. Im Altenheim wird wegen der Salmonellengefahr vermieden, Spiegeleier in die Pfanne zu hauen. Aber wenn ein alter Mensch sich über Jahrzehnte ein Spiegelei gebraten hat und sich darüber freut, warum sollen wir ihm das im Alter nehmen? Das Leben birgt nun mal Risiken. Aber sollen wir deshalb aufhören, das Leben zu genießen?
WELT: Ein Blick in die Zukunft – wie wird stationäre Pflege um das Jahr 2050 aussehen?
Wilhelm: Ich würde mir wünschen, dass stationäre Pflege, so wie wir sie heute kennen, die Ausnahme sein wird, und wir viele andere Angebote haben werden, die sich an den vielen unterschiedlichen Bedürfnissen der alten Menschen orientieren. Teun Toebes, ein junger Mann in den Niederlanden, kämpft dort gerade sehr für mehr Normalität, Begegnung und einen anderen Blick auf die zu pflegenden Menschen. Der Untertitel meiner Promotion war „Vom Behandlungs- zum Begegnungszentrum.“ Nach 30 Jahren muss ich erkennen, dass wir auf diesem Weg keinen einzigen Schritt vorangekommen, sondern eher zurückgegangen sind.
Peter Wenig