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  1. Seite 1Wachstum, verzweifelt gesucht


  2. Seite 2Die Schatzkanzlerin hat kaum Spielraum

Dass in ihrem Land die Wirtschaft krankt, merken Karl und seine Familie bei ihren Hobbys, bei ihren Krankheiten, bei ihren Reisen. Karls Vater, Rentner nördlich von London, werkelte jahrelang an seinem kleinen Segelboot. Er würde es nun gern verkaufen, aber niemand hat Interesse. „Der Markt ist zusammengebrochen“, sagt der 70-Jährige. Bei Oldtimermotorrädern, seiner anderen Leidenschaft, sei es genauso. „Die Menschen geben kein Geld aus.“

Karl, IT-Fachmann im nordenglischen Leeds, bekommt keinen Zahnarzttermin. Immer mehr Ärztinnen verlassen das unterfinanzierte staatliche Gesundheitssystem. Der 29-Jährige ärgert sich, dass die Regierung den Verteidigungsetat hochschraubt, statt wie versprochen den National Health Service spürbar zu stabilisieren. „Insgesamt gibt es bei meinen Freunden – links wie rechts – riesige Enttäuschung über Labour“, sagt Karl. 

Karl und sein Vater, britische Mittelschicht, stehen mit dem, was sie berichten, stellvertretend für viele im Land. Vor etwas mehr als einem Jahr wählten die Briten den Anwalt Keir Starmer mit der größten Mehrheit seit Tony Blair zum Premierminister – und damit zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder eine Labour-Regierung. Inzwischen ist Rechtspopulist Nigel Farage beliebter als Starmer. Farages Partei Reform UK gewann in den Kommunalwahlen Anfang Mai stark hinzu. Sie führt jetzt in Beliebtheitsumfragen. Die Briten finden, Starmer habe sein erstes Jahr an der Macht versemmelt. Was ist passiert?

Eine toxische Mischung

Keir Starmer hatte dem Land vor allem eins versprochen: mehr Wirtschaftswachstum. Denn die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs dümpelt vor sich hin – aus mehreren Gründen: der Sparpolitik in den 2010er-Jahren nach Beginn der Eurokrise, dem Brexit, der Coronapandemie, dem Ukrainekrieg. Unternehmen investieren zu wenig, weil ständig wirtschaftliche Unsicherheit herrscht. „Es war einfach jahrelang unklar, wohin die Reise geht“, sagt Andrew Lee, britischer Ökonom an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe.

Denn nicht nur die Krisen wechselten einander ab, sondern seit 2019 auch die Regierungschefs mit einer Frequenz wie sonst Manager in der Premier League: Boris Johnson, Liz Truss, Rishi Sunak, Keir Starmer. Labour übernahm das Land in einer schwierigen Situation – und bekam neue Probleme hinzu, wie das von US-Präsident Donald Trump entfesselte Zollchaos. „Es ist eine toxische Mischung aus vielen Faktoren“, sagt Lee. Zwar sei die Lage noch nicht katastrophal. „Aber grundsätzlich ist es schon enttäuschend, was im ersten Jahr wirtschaftlich passiert ist.“

© ZEIT ONLINE

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Starmer wirkt auf viele Britinnen und Briten planlos, sie fragen sich noch immer, wofür er steht und was er will. Vor allem aber bleiben seine Erfolge aus. Dabei attestieren Wirtschaftswissenschaftler der Regierung bislang keine gravierenden Fehler. Aber sie habe von Anfang an falsche Erwartungen geweckt, sagt Jonathan Portes, Ökonom am Londoner King’s College. „Labour kam mit einer etwas widersprüchlichen Botschaft an die Macht: ‚Das Land steckt in einem schrecklichen Schlamassel, alles ist furchtbar‘ – aber gleichzeitig: ‚Wir werden so viel besser sein als die Konservativen!'“, sagt er. „Dabei sind das tief sitzende Probleme, die nur mit viel Arbeit und Energie gelöst werden können.“ 

Die Regierung steckt in einem Dilemma: Einerseits fehlt finanzieller Handlungsspielraum – die Schuldenquote liegt mittlerweile bei mehr als 100 Prozent, als unbedenklich gilt die EU-Obergrenze von 60 Prozent. Im aktuellen Haushaltsjahr, das im April begann, werden wohl mehr als acht Prozent der britischen Staatsausgaben für Schuldzinsen draufgehen. Zum Vergleich: Das aufgestockte Verteidigungsbudget liegt bei weniger als fünf Prozent. „Deutschland kann sich sein Sondervermögen noch leisten, aber in Großbritannien fehlt jetzt schon das Geld“, sagt Andrew Lee. 

Andererseits fühlt sich Labour offenbar von den Rechtspopulisten getrieben. Zumindest legen dies politische Entscheidungen nahe wie jene, die Immigration weiterhin deutlich zu begrenzen – sogar den Zuzug von internationalen Studierenden, was bedeutet, dass Staat und Universitäten Einnahmen verloren gehen. Viele, die Starmer beobachten, teilen den Eindruck von Ökonom Lee: „Es wirkt, als sei er noch im Wahlkampf.“ Dabei habe der Premier noch vier Jahre Zeit und eine deutliche Mehrheit bei den Abgeordneten im Unterhaus, er könnte durchregieren.