Carrin Bierbaum lebt mit ihrer 34-jährigen Tochter Liesa in Connewitz. Heute gibt es Pizza zum Abendbrot. Am Esstisch sitzen sie zu viert. Zu Besuch sind Christina Straub und ihre Pflegetochter, die von Straub liebevoll »das Mäuschen« genannt wird und in diesem Text anonym bleiben soll. Straubs Pflegetochter ist 18 Jahre alt, geistig behindert und auf die Pflege und Betreuung von Christina Straub angewiesen. Liesa Bierbaum ist mehrfach schwerbehindert und sitzt im Rollstuhl. Die beiden Mütter kennen sich aus einer Gruppe, die dafür da ist, eine barrierefreie Wohngemeinschaft in Leipzig zu finden. Was sie verbindet, ist die gemeinsame Sorge um die Zukunft ihrer Kinder.

»Man muss jetzt schon mal in die Zukunft gucken, weil man immer älter wird und nicht weiß, was kommt«, sagt Carrin Bierbaum. Bisher habe sie das Thema verdrängt und noch nicht darüber nachgedacht. Bei einem Arztbesuch mit ihrer Tochter habe Bierbaum eine Mutter kennengelernt, die von der WG-Idee erzählte. Daraufhin besuchte Bierbaum ein Netzwerktreffen. Das Projekt ins Leben gerufen hat das Innovative Netzwerk Wohnen mit Behinderung (INWoB). Das Netzwerk wurde 2020 gegründet, aus der Beobachtung heraus, dass es »viel zu wenig bezahlbaren, barrierefreien Wohnraum in Leipzig für Menschen mit Behinderung gab«, sagt Eva Klotz dem kreuzer am Telefon. Klotz ist Sozialarbeiterin und Netzwerkkoordinatorin des INWoB. Das Netzwerk vereint verschiedene Akteurinnen und Akteure: Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen, soziale Träger, die Stadt Leipzig, Architektinnen und Architekten – mit dem Ziel, mehr barrierefreien Wohnraum entstehen zu lassen. Die Idee: ein Neubau, der von Anfang an gemeinsam gedacht wird – und zwar inklusiv. Geplant sind in dem Haus zwei Wohngemeinschaften für je vier Menschen mit Unterstützungsbedarf, Wohnungen für Menschen über 50 und Wohngemeinschaften für junge Auszubildende. Teil des Projekts ist ein Architekten-Team, das den Wohnraum nach Vorstellung und Bedürfnissen der Wohngemeinde vorausplant. »Größe der Schlafzimmer, Fahrradkeller, Gemeinschaftsgarten, das kann alles darauf angepasst werden, wie die Gemeinschaft zusammenleben will«, berichtet Bierbaum. Darüber gesprochen und entschieden wird in Gruppentreffen. Das Grundstück für den Neubau finanziert der Träger Denkmalsozial gGmbH. Die Finanzierung des Baus ist bisher unklar.

»Ich bin froh, dass ich das Projekt gefunden habe«, sagt Christina Straub. Für sie ist es eine Alternative zum Behindertenwohnheim, wo es in Straubs Augen oftmals nur zur »Aufbewahrung« der Menschen kommt. »Ich wünsche mir, dass unsere Kinder eine Art Ersatzfamilie finden, eine Gemeinschaft, in der sie genauso aufgehoben sind und sich wohlfühlen wie bei ihrer Familie«, sagt Straub. Vor fünf Jahren habe sie nach Alternativen gesucht und Aktion Mensch nach Hilfe gefragt. Die Organisation hat Straub auf eine WG in Connewitz aufmerksam gemacht. Dort gründete sich bereits 2015 eine Bürgerinitiative von Angehörigen und entstand 2018 das inklusive Wohnprojekt für acht Menschen mit Assistenz- und Pflegebedarf sowie sechs Menschen ohne Behinderung, die auf dem Gelände leben. »Und das funktioniert«, berichten die beiden Mütter, die mit den Bewohnerinnen und Bewohnern dort in Kontakt sind.

Neben der Finanzierung sei eine weitere Hürde die Frage nach der Betreuung und Pflege. Die meisten zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner würden 24-Stunden-Betreuung benötigen, sagt Straub. Carrin Bierbaum zum Beispiel möchte mit ins Haus ziehen, in eine Ü50-Wohnung. Damit sie weiterhin in der Nähe sein kann. »Ich spreche als Mutter immer für meine Tochter. Man kann nicht in den Kopf reingucken und es wissen, aber vielleicht ist es ja befruchtend, in so einer WG zu wohnen«, sagt Bierbaum. »Liesa hat eine rege Mimik und Gestik, entscheidet sich für oder gegen Dinge, kommuniziert mit den Augen. Ich hoffe, dass mir ihre Körpersprache zeigt, wie es ihr gefällt, und sich genug Menschen finden, die unsere Kinder annehmen und beständig sind – und so fürsorglich sind wie wir.«

Sozialarbeiterin Eva Klotz ist der Meinung, dass es in Leipzig zu wenige barrierefreie Häuser gibt – auch wegen des großen Altbaubestands. Es gebe aber auch viel zu wenig Wohnplätze in Wohnheimen, sagt Klotz. Teilweise wollen Angehörige also, dass ihre Kinder eine möglichst selbstbestimmte Wohnform bekommen, aber andererseits geschehe das auch aus einem Mangel heraus. Straub und ihre Familie zum Beispiel wohnen in einer sehr ländlichen Gegend in der Nähe von Grimma, aber nur in Leipzig gebe es die Spezialtherapie, die ihre Pflegetochter benötige. Momentan bezieht Straub dafür eine Zweitwohnung in der Stadt. »Wir wohnen so ländlich, da kommt kein Pflegedienst hin, selbst Grimma ist zu weit – und wenn, dann kostet es uns 90 Euro die Stunde.« Außerdem sei eine Teilhabe am Leben unmöglich: »Es gibt nicht mal eine Behindertenwerkstatt in der Nähe«, so Straub.

Bisher haben sich sechs Personen für die inklusive Wohngemeinschaft gefunden. Im nächsten Schritt werden noch Menschen gesucht, die sich vorstellen können, in so einem Haus zu wohnen und Teil der Gemeinschaft zu werden. Inzwischen fanden auch Vernetzungstreffen zur Finanzierung statt. Und 2029 könnten Carrin Bierbaum und Christina Straub mit ihren Töchtern in dem Haus Pizza essen.

> Mehr Infos unter www.inwob.net und www.denkmalsozial.de