Die russischen Behörden teilten am Samstag mit, die Ukraine habe einen nächtlichen Drohnenangriff auf Rostow, eine südliche Grenzregion zur Ukraine, durchgeführt. Drohnenangriffe, die den ukrainischen Armeeeinheiten neue Punkte gebracht haben dürften. Bei der BBC heißt es dazu: „Töte russische Soldaten, gewinne Punkte: Macht das neue Drohnenprogramm der Ukraine den Krieg zum Videospiel?“ Auch der „Economist“ veröffentlichte kürzlich eine Analyse darüber, „wie Drohnen und Videospieltechniken im Ukraine-Krieg zusammenkommen“.
Tatsächlich gibt es das System schon länger, vergangenes Jahr sei es der BBC zufolge erstmals getestet worden. Die Idee dahinter ist einfach: Für jeden getöteten russischen Soldaten oder zerstörten Ausrüstungsgegenstand gebe es eine bestimmte Anzahl an Punkten. Unterschieden werde zudem nach den Kategorien „getroffen“ und „zerstört“.
„Je wichtiger das Ziel, desto mehr Punkte“
Der „Economist“ schreibt dazu: „Sobald ein Drohnenangriff protokolliert, identifiziert und bestätigt ist, gewinnt er eine Anzahl von Punkten, abhängig vom militärischen Wert des zerstörten Objekts.“ Dabei gelte: „Je strategisch wichtiger und großflächiger das Ziel, desto mehr Punkte erhält eine Einheit“, heißt es in einer Erklärung des Teams von Brave1, einer Plattform der ukrainischen Regierung, die Experten aus Regierung und Militär zusammenbringt.
Auch die Umsetzung sei vergleichsweise einfach, werde doch ohnehin bereits jetzt alles gefilmt, protokolliert und gezählt. Auf riesigen Bildschirmen würden Dutzende Videos ukrainischer Drohnen live übertragen, ausgewertet und Punkte an die verantwortlichen Einheiten vergeben werden, schreibt die BBC.
Effektive Nutzung begrenzter Ressourcen als Ziel
„Ich denke, in erster Linie geht es um qualitativ hochwertige Daten, die Mathematik des Krieges und darum, zu verstehen, wie man begrenzte Ressourcen effektiver nutzen kann“, wird Mychailo Fedorow, der ukrainische Minister für digitale Transformation und Kopf hinter dem Punkteschema, bei der BBC zitiert.
Laut Fedorow würden derzeit zwischen 90 und 95 Prozent der Kampfeinheiten an dem Programm teilnehmen und dabei einen „stetigen Strom nützlicher Daten“ liefern. „Wir haben angefangen, qualitativ hochwertige Informationen zu erhalten und Entscheidungen darauf basierend zu treffen“, sagte er.
Beim „Economist“ heißt es dazu, der Krieg in der Ukraine sei ein Katalysator für militärische Innovationen. Und eine der „interessantesten Entwicklungen“ sei genau diese Nutzung von „Videospielanreizen“, um die Effizienz der Streitkräfte im Kampf gegen die russische Invasion zu steigern.
Auch für Motivationssteigerung
Zudem diene das System laut Fedorow aber auch der Steigerung der Motivation der Soldaten: „Wenn wir die Punktwerte ändern, können wir sehen, wie sich die Motivation verändert.“ Auch ein Frontsoldat, der anonym bleiben wollte, sagte gegenüber der BBC: „Unsere Jungs sind erschöpft, und nichts motiviert sie wirklich mehr. Aber dieses System hilft.“ Schließlich gebe es für jeden Punkt eine Belohnung.
AP/Hanna Arhirova
Die Nutzung von „Videospielanreizen“ soll die Effizienz und Motivation der Streitkräfte fördern
„Amazon für den Krieg“
Bisher sei es nur möglich gewesen, Punkte in Bargeld umzuwandeln. Da viele Einheiten dieses aber ohnehin in neue Ausrüstung investiert hätten, sei nun ein neues System etabliert worden, wo die Punkte direkt für die Beschaffung dringend benötigter militärischer Produkte verwendet werden könnten.
Die BBC schreibt dazu: „Soldaten können mehr als 1.600 Produkte durchsuchen, ihre gesammelten Punkte verwenden, Artikel direkt von Herstellern kaufen und Bewertungen hinterlassen, wobei das Verteidigungsministerium die Rechnung danach übernimmt.“ Auch dieses von den Entwicklern genannte „Amazon für den Krieg“ laufe über die Regierungsplattform Brave1, so die BBC.
Der „Economist“ rechnete vor: Wenn ein Drohnenbetreiber einen russischen T-90M-Panzer zerstöre, könne er mit den dadurch gewonnenen Punkten 15 weitere Drohnen erhalten. Das System stelle also sicher, dass erfolgreiche Drohnenbetreiber neue Drohnen vor ihren weniger effektiven Kollegen erhalten. Durch den Direktkauf ermögliche das System den Kampfeinheiten außerdem, den standardmäßigen Beschaffungsprozess zu umgehen, der „langsam und umständlich“ sein könne.
https://brave1.gov.ua (Screenshot)
Mittlerweile ist das Punktesystem in die ukrainische Regierungsplattform Brave1 integriert
„Moralisch fragwürdig“
Andere von der BBC befragte Soldaten wiederum, die ihren Namen ebenso nicht nennen wollten, sehen das Punktesystem kritischer. Punkte würden kriegsmüde Armeeangehörige nicht davon abhalten, aus dem Militär zu fliehen. Auch sei das ganze Konzept „moralisch fragwürdig“, so der Tenor. Ein Soldat sagte: „Dieses System ist nur das Ergebnis unserer verdrehten mentalen Gewohnheit, alles in Profit zu verwandeln. Sogar unseren eigenen verdammten Tod.“
Die BBC schreibt dazu: „Punkte für Tötungen. Amazon für den Krieg. Für manche Ohren mag das alles brutal, sogar gefühllos klingen. Aber das ist Krieg, und die Ukraine ist entschlossen, durchzuhalten. Indem sie so effektiv und effizient kämpft, wie sie kann.“
Ähnliches ist beim „Economist“ zu lesen. Kritiker und Kritikerinnen würden bereits seit den Golfkriegen entmenschlichende „Videospielkriege“ verurteilen. Auch sei die Verwendung quantitativer Ziele im Krieg nicht neu. Leichenzählungen seien etwa im Vietnamkrieg die primäre Methode der Fortschrittsmessung gewesen. „Sie bestimmten, wer Medaillen, Beförderungen und sogar Belohnungen wie Zeit fernab der Front erhielt.“ Die heutigen Soldaten, die mit Videospielen aufgewachsen seien, würden das Punktesammeln „zweifellos als eine wenig überraschende Weiterentwicklung dieser Idee“ sehen.
Drohnen integraler Bestandteil der Kriegsführung
Und im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind Drohnen mittlerweile integraler Bestandteil der Kriegsführung. Russland fuhr seine Drohnenproduktion zuletzt hoch. In der Vorwoche griffen Russlands Streitkräfte die Ukraine mit mehr als 720 Drohnen in einer Nacht an, es war der bisher schwerste Angriff seit Kriegsbeginn.
Vor allem entlang der Front hat die Bedeutung von Drohnen für die Kriegsführung seit dem russischen Einmarsch 2022 stetig zugenommen. Für die Ukraine, die sich mit einem zunehmenden Mangel an Infanterie konfrontiert sieht, sind Drohnen ein Mittel zur Kontrolle der Front und für Angriffe auf durchstoßende russische Truppen.
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge sind die Drohnen sogar das entscheidende Instrument, das es seinem Land ermöglicht habe, sich mehr als drei Jahre lang gegen die russische Invasion zu wehren. Mit der Zunahme an Drohneneinsätzen gewinnt das Punktesystem daher wohl noch einmal mehr an Bedeutung.