Inhalt

Auf einer Seite lesen

Inhalt


  1. Seite 1Wachstum, verzweifelt gesucht
  2. Seite 2Die Schatzkanzlerin hat kaum Spielraum

Aber die Regierung, so scheint es, steht sich aus Angst vor Farage teils selbst im Weg. Beim Post-Brexit-Handel mit der EU hat sie sich rote Linien auferlegt: kein Binnenmarkt, keine Zollunion, keine Arbeitnehmerfreizügigkeit – und damit potenzielle Wachstumsquellen ausgeschlossen. Gleichzeitig versprach Schatzkanzlerin Rachel Reeves, die Einkommenssteuer nicht zu erhöhen. „Ihr bleiben aber auch kaum Möglichkeiten, den Rotstift anzusetzen“, sagt Lee.

Keir Starmer hatte bereits unpopuläre Kürzungen bei Sozialleistungen beschließen wollen – und war Ende Juni daran gescheitert, dass Scharen seiner eigenen Abgeordneten rebellierten, während er selbst mit Außenpolitik abgelenkt war. Die Kehrtwende verunsicherte prompt internationale Anleger. Das Gleiche passierte, als Rachel Reeves Anfang Juli im Unterhaus weinen musste – offiziell aus privaten Gründen: Die Rendite britischer Staatsanleihen stieg, das Pfund verlor gegenüber dem Euro und dem US-Dollar.

Weil irgendwoher Einnahmen kommen müssen, gehen die meisten davon aus, dass Reeves im Herbst doch Steuern erhöhen muss, etwa jene für Unternehmen. Das trübt deren Stimmung weiter: Der Geschäftsklima-Index sank im zweiten Quartal dieses Jahres zum vierten Mal in Folge. Dabei wäre dringend Optimismus nötig, um Investitionen zu fördern – denn die verschleppten Staat und Wirtschaft spätestens seit der Eurokrise. „Die Regierung hätte in den 2010er-Jahren praktisch zu Nullzinsen Geld leihen und in die Infrastruktur investieren können“, sagt Jonathan Portes. „Jetzt ist es zu spät.“

Großbritannien hat seitdem jährlich zwischen 15 und 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert, Deutschland zwischen 20 und 22 Prozent. Der Investitionsstau auf der Insel zeigt sich etwa beim Verkehr: verstopfte Autobahnen mit Schlaglöchern, überalterte und unzuverlässige Züge. Der Ökonom Andrew Lee kommt aus einer Industriestadt in der Nähe von Manchester: „Da ist die Verkehrsinfrastruktur unglaublich schlecht“, sagt er. „Im Vergleich dazu läuft es in Deutschland deutlich besser.“

Die Probleme zeigen sich sogar an leeren Planschbecken in Yorkshire. Dort ist es gerade verboten, Gartenschläuche zu benutzen. Politik und Wasserversorger haben zu wenig in Reservoire und Leitungen investiert. Mehr als ein Fünftel des Wassers in Yorkshire versickert durch Lecks. Ein neues Reservoir wäre ebenso vor längerer Zeit nötig gewesen wie mehr Geld fürs Justizwesen, für den Wohnungsbau, für das Gesundheitssystem.

Der Brexit ist nicht das Hauptproblem

Aber nach den Jahren der Austerität verschlimmerte der Brexit die Lage: Er unterbrach Handelsketten, hemmte den Außenhandel – vor allem die Exporte – und führte dazu, dass Fachkräfte fehlen. Studien schätzen, dass das britische Bruttoinlandsprodukt ohne Brexit ein bis fünf Prozent höher läge. „Der Brexit ist aber nicht das Grundübel der britischen Volkswirtschaft“, sagt Andrew Lee. „Das Hauptproblem ist seit der Finanzkrise die fehlende Produktivität.“ 

Eine durchschnittliche Stunde Arbeit trägt im Vereinigten Königreich also aus ökonomischer Sicht zu wenig zum Bruttoinlandsprodukt bei. Denn schlecht ausgestattete Arbeiterinnen und Arbeiter können weniger leisten als gut ausgestattete. Arbeiter in Großbritannien können einer aktuellen Studie zufolge pro Stunde im Mittel ein Drittel weniger Kapital nutzen als jene in Ländern wie den USA, Frankreich und Deutschland. „Alle anderen sind den Briten davongerast, was die Produktivität angeht“, sagt Lee. Unproduktive Volkswirtschaften aber wachsen nicht, langfristig kann ihr Lebensstandard sinken.

Auch hier wären Investitionen die Lösung. Starmers Regierung weiß das. Sie hatte etwa angekündigt, die ländliche Infrastruktur zu verbessern, die hinter den Großstädten weit zurückfällt, und wollte im großen Stil neue Wohnungen bauen – verpasste ihr Ziel aber zunächst. Nun stockt Rachel Reeves die Mittel für den Wohnungsbau noch einmal auf, außerdem will sie in eine britische Stärke investieren: Forschung und Entwicklung. Auch für neue Wasserreservoire zahlt die Regierung. Die Eisenbahnbetriebe verstaatlicht sie gerade wieder, sie sollen besser werden – ob die hohen Ticketpreise sinken, ist aber unklar. Und der National Health Service erhält über zwei Jahre zusätzliche 26 Milliarden Pfund. Allerdings wird allein sein Wartungsrückstand, etwa bei Gebäuden, auf fast 14 Milliarden Pfund geschätzt. Patientinnen merken von dem zusätzlichen Geld noch nicht viel. 

Darauf wird es aber ankommen, findet Jonathan Portes vom King’s College: ob Keir Starmer in seiner verbleibenden Zeit bei seinen Versprechen liefern könne. „Er muss den Leuten nahebringen, dass sie nicht erwarten können, dass über Nacht alles wundervoll wird“, sagt er. „Aber dass es am Horizont Hoffnung gibt und dass die Regierung einen Plan hat.“ Der Premierminister braucht also mehr Profil. Sonst herrscht weiter der Eindruck, die Labour-Politik bestünde vor allem aus Kehrtwenden (wie bei den Sozialleistungskürzungen) und aus Versuchen, die Rechten zu besänftigen (wie bei der Migration). 

Gleichzeitig sorgen sich die Britinnen und Briten um weitere finanzielle Einschnitte: um die Steuern, um ihre Rente. Darum, dass die Lebenshaltungskosten weiter steigen, während das durchschnittliche verfügbare Einkommen inflationsbereinigt nicht höher liegt als kurz vor der Eurokrise. Deshalb haben die Menschen wenig Geduld mit ihrer ungeschickt kommunizierenden Regierung, solange sie keine Erfolge sehen – und halten das Geld, das sie haben, beisammen. Die Nachfrage nach Liebhaberstücken wie gebrauchten Segelbooten dürfte also noch eine Weile leiden.