Als junge Auszubildende ist Leontine in der Buchbinderei eine Seltenheit. Wie blickt die 21-jährige Stuttgarterin auf die Zukunft ihrer Arbeit?
Leontine erinnert sich noch gut an eine Abmachung mit ihrer Kunstlehrerin. Während ihrer Schulzeit habe sie eigenhändig Bücher hergestellt, erzählt die heute 21-Jährige. „Die fertigen Exemplare konnte ich dann bei meiner Lehrerin gegen frische Pappe eintauschen – um daraus noch mehr Bücher zu machen.“
Inzwischen hat die Stuttgarterin gewissermaßen ihr einstiges Hobby professionalisiert. Seit September des vergangenen Jahres absolviert sie eine Ausbildung in der Buchbinderei Mende in Untertürkheim. Damit stellt sie eine Seltenheit dar. In ganz Stuttgart arbeiten nur noch 123 Menschen unter 35 Jahren im Feld Drucktechnik und -weiterverarbeitung sowie Buchbinderei. Vor zehn Jahren waren es noch fast dreimal so viel.
In der Buchbinderei schwindet der Nachwuchs
Der Anteil der jüngeren Arbeitnehmer ist auf 16,2 Prozent gesunken und im Vergleich unterschiedlicher Berufsfelder weit unterdurchschnittlich. Das zeigen Berechnungen unserer Redaktion auf Basis von Daten der Agentur für Arbeit.
Leontine scheint in der Buchbinderei jedoch ihre Nische gefunden zu haben. Nach der Schulzeit studierte sie zunächst einige Semester Chemie in München, kehrte dann allerdings nach Stuttgart zurück. Mit dem Wunsch, etwas Handwerkliches zu machen, landete sie schließlich bei Mende. Dort ist sie – entgegen des Trends in der Branche – momentan nicht die einzige Auszubildende.
Buchbinderei als Handwerk
Leontines Azubi-Kollegin Ulla Härer schlägt in der Statistik aber nicht als junge Beschäftigte nieder – wird sie doch in Kürze 54 Jahre alt. Die gelernte Krankenschwester sagt, im vergangenen Jahr habe sie einen Tapetenwechsel angestrebt. Nach eigener Aussage war Härer “sofort Feuer und Flamme”, als sie den Ausbildungsberuf Buchbinderin entdeckte. Denn: “Bücher sind einfach mein Ding.”
Während ihrer dualen Ausbildung erhalten Leontine und Härer an der Johannes-Gutenberg-Schule in Bad Cannstatt blockweise Unterricht, zusammen mit Azubis aus der Druckweiterverarbeitung. “Wir sagen immer: Das sind die Industriebuchbinder und wir sind die Handwerker”, erzählt Härer. Zwar kommen auch in der Buchbinderei Mende Geräte wie ein Planschneider, Prägepressen und Leimmaschinen zum Einsatz. “Wir könnten ein Buch auch komplett ohne Maschinen herstellen”, sagt Härer.
Ausschließlich Frauen in der Ausbildungsklasse
Bei Mende machen Leontine und Härer vor allem Umbindungen. Das bedeutet: In Untertürkheim kommt ein Buch mit Softcover an, das nun ein Hardcover erhalten soll. Dafür trennen die Buchbinderinnen zunächst vorsichtig den alten Einband von den Seiten. Anschließend schneiden sie den neuen Einband aus Pappe zu und überziehen ihn mit Gewebe oder Leder. Zum Schluss werden der neue Einband und der alte Inhalt zusammengeklebt. Bei der Bindung neuer Bücher ist der Ablauf ähnlich, nur dass die Seiten dann ohne Einband frisch aus der Druckerei kommen.
Ulla Härer (links) und Leontine schneiden Gewebe für den Einband eines Buches zurecht. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt
In der Ausbildungsklasse sind die Buchbinderei-Azubis in der Minderheit – und allesamt Frauen. Leontine vermutet, dass der relativ geringe Lohn in dieser Sparte ein Grund dafür sein könnte. Die Ausbildungsvergütung in der Buchbinderei Mende beträgt rund 500 Euro, der reguläre Verdienst liegt Betriebsinhaber Frank Siegle zufolge “knapp über dem Mindestlohn”.
Dafür hat der Job laut Härer andere Vorzüge: “Hier geht es zwar nicht gemütlich zu, aber es ist doch etwas anderes als Akkord-Arbeit in der Fabrik.” In der Werkstatt zwitschert ein Kanarienvogel gegen die gusseisernen Maschinen an. Leontine lobt: “Ein besseres Betriebsklima als hier geht vermutlich nicht.” Neben Inhaber Frank Siegle arbeiten auch dessen Frau und einer seiner Söhne in dem Betrieb – fast die Hälfte der sieben Personen in der Werkstatt. Der Vogel gehört ebenfalls zur Familie Siegle. “Er wäre zuhause allein, weil wir alle hier sind”, sagt Siegle.
Markt für Buchbinderei schwindet
Ein sorgenloses Wohlfühl-Refugium ist Buchbinderei aber bei weitem nicht. Siegle erklärt, dass der Markt mit der zunehmenden Digitalisierung deutlich geschrumpft sei und viele Betriebe aufgegeben hätten. Für die gesamte Druck- und Medienindustrie – von der die Buchbinderei nur einen kleinen Teil ausmacht – ist der Trend ähnlich. Unter diesen Bedingungen setzt Mende laut Siegle auf Klasse statt Masse. Das heißt: Aufträge in kleiner Auflage für Kundschaft, die etwas Besonderes will – und sich das leisten kann. Dazu gehören etwa Kommunen, die bei Mende ihre Goldenen Bücher in Auftrag geben. Zudem Privatkunden, die ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben oder Ahnenforschung betrieben haben.
Leontine findet es „einfach schön, ein Buch in der Hand zu halten. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt
Die Restauration von einzelnen Exemplaren ist ein weiterer Zweig. “Das sind meistens Bücher, die den Kunden enorm viel bedeuten. Deshalb muss man da sehr vorsichtig sein”, sagt Leontine. Auch deshalb kommt sie zu der Einschätzung: “Ich glaube, ein guter Teil von unserer Arbeit ist nicht durch Maschinen ersetzbar.” Trotz des schrumpfenden Marktes und geringer Verdienstaussichten sieht sie ihre berufliche Zukunft in der Buchbinderei. Sie ist davon überzeugt, dass es weiterhin genug Wertschätzung für ihre Arbeit vorhanden sei. Denn vielen Leuten gehe es ähnlich wie ihr, wenn sie sagt: “Das Papier, der Geruch – ich finde es einfach schön, ein Buch in der Hand zu halten.”
Daten zu jungen Beschäftigten in Stuttgart
Quelle
Die Berechnungen zum Anteil der jungen Beschäftigten in Stuttgart basieren auf Daten der Agentur für Arbeit. Diese zeigen, für wie viele Beschäftigte der Altersgruppen unter 25 Jahren, 25 bis unter 35 Jahre, 35 bis unter 55 Jahre sowie 55 Jahre und älter jeweils 2014 und 2024 in Stuttgart arbeiteten. Die Zahlen beziehen sich ausschließlich auf Beschäftigte mit dem Arbeitsort Stuttgart. Das heißt: Es ist nicht der komplette Zuständigkeitsbereich der Agentur für Arbeit Stuttgart eingeschlossen. Dieser umfasst auch den Landkreis Böblingen.
Beschäftigung
In die Daten sind alle Formen von Beschäftigung eingeflossen. Während sozialversicherunsgpflichtig Beschäftigte in den meisten Berufsfeldern den überwiegenden Anteil ausmachen, zählen auch geringfügig Beschäftigte in die Statistik.
Berufe
Die Zahlen zu Beschäftigten in Stuttgart beziehen sich nicht auf einzelne Berufe, sondern auf sogenannte Berufsgruppen. Darin sind jeweils mehrere Berufe zusammengefasst. Eine Auflistung, welcher Beruf zu welcher Gruppe gehört, findet sich auf der Webseite der Agentur.