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Journalisten setzen in der Ukraine bei Luftalarm, Stromausfällen und in Angst um Familie und Freunde ihre Arbeit fort. Das hinterlässt Spuren.
Das Mädchen war barfuß, trug einen Pyjama und hatte blutige Füße. Ihre Mutter fragte, ob es weh tut. Es sagte: „Ich wollte so sehr überleben, dass ich es nicht gespürt habe.“
Die ukrainische Journalistin Lesiya Lazorenko beschreibt eine Szene, die sie in einem Schutzbunker während eines Raketenangriffs erlebt hat. Sie selbst suchte dort Unterschlupf mit ihrer elfjährigen Tochter. Russische Angriffe gehören in ihrer Heimatstadt Kremenchuk in der Region Poltawa in der Zentralukraine zum Alltag.
Putins Terror: Journalisten arbeiten im Ukraine-Krieg am Limit
In den vergangenen Wochen haben die Angriffe die örtliche Infrastruktur zerstört, Häuser, Schulen und Geschäfte beschädigt. „Aber Deadlines warten nicht, auch nicht bei Luftangriffssirenen“, sagt Lazorenko dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Die Chefredakteurin des Telegraf aus Krementschuk und ihr Team arbeiten oft von Schutzräumen aus oder ohne Strom.
Die ukrainische Journalistin Lesiya Lazorenko gibt ihre Arbeit nicht auf. © Lesiya Lazorenko
Geschichten wie die über das Mädchen im Pyjama mit zerkratzten, blutenden Füßen gehören zu ihrem Redaktionsalltag. „Wir erleben diese Schicksale, wir dokumentieren sie, weil sie Teil des Krieges sind“, sagt sie.
Lokaljournalismus spielt laut Lazorenko eine wichtige Rolle im Krieg. Zum einen liefert er lebensrettende Informationen auf Gemeindeebene. Die Menschen erfahren, was sich in ihrer eigenen Nachbarschaft abspielt, wo sie etwa medizinische Hilfe finden. Zum anderen „übersetzen“ Lokaljournalisten die nationale Politik für ihre Leser in den Gemeinden.
Ukraine-Krieg: Lokaljournalismus zieht Verantwortliche zur Rechenschaft
Auch erhalten sie eine Funktion als „Überwacher“. „Krieg sollte nicht bedeuten, dass die Rechenschaftspflicht ausgesetzt wird“, betont die Journalistin. Lokaljournalisten seien oft die Einzigen, die wissen, wie lokale Behörden wirklich arbeiten – wie Budgets zugewiesen, welche Auftragnehmer bevorzugt und wo Regeln im Stillen gebeugt werden, fügt sie an.
Lazorenkos Team wirft ein Auge auf Korruption und Machenschaften; auch wenn das „unpopulär oder politisch heikel“ ist, wie sie meint. Die Ukraine befindet sich zwar im Krieg, aber das sei keine Entschuldigung, nicht auch den eigenen Machthabern weiterhin auf die Finger zu blicken.
Ihre Kollegin Mariya Frey sieht im Lokaljournalismus die Grundlage für das öffentliche Vertrauen und den sozialen Zusammenhalt in Kriegszeiten. Sie ist Vorstandsmitglied von Suspilne, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Ukraine.
Laut Frey wirken lokale Journalisten auch Desinformationen entgegen, insbesondere der russischen Propaganda, die darauf abzielt, die ukrainische Gesellschaft zu spalten. „Am wichtigsten ist jedoch, dass sie den vom Krieg betroffenen Gemeinschaften eine Stimme geben und ihre Geschichten dokumentieren, um Gerechtigkeit zu erreichen“, sagt sie unserer Redaktion. Allerdings wird die Arbeit für Lokaljournalisten in der Ukraine immer schwieriger.
Burnout, Luftalarm und Russland-Hacker: Der Alltag von Journalisten in der Ukraine
„Wir stehen unter extremem Druck – finanziell, mental und körperlich. Im Jahr 2022 haben wir aufgrund des Zusammenbruchs des lokalen Werbemarktes den Großteil unserer Einnahmen verloren“, sagt Lazorenko über ihr Medium Telegraf. Seit 25 Jahren sei es ein unabhängiges Medienunternehmen. Doch lokale Unternehmen, die früher im Telegraf warben, kämpften heute selbst ums Überleben.
Zudem sieht die Chefredakteurin im Mangel an Personal eine große Herausforderung. Im Krieg haben viele Fachkräfte die Ukraine verlassen. Auch qualifizierte Journalisten haben der Branche den Rücken gekehrt, sind ins Ausland gezogen – oder an die Front.
„Zwei unserer Reporter sind in der Armee. Wir arbeiten weiterhin unter dem Klang von Luftangriffssirenen, und diese Instabilität schränkt den Zugang zu Finanzmitteln ein und untergräbt die langfristige Planung“, sagt Lazorenko.
Ein beschädigtes Geschäft in Krementschuk nach russischem Raketenangriff Anfang Juli. © Lesiya Lazorenk0
Die schwierigen Arbeitsbedingungen und die mentale Belastung kommen hinzu. Stromausfälle gehören zum Alltag. „Wir haben gelernt, mit Generatoren und mobilem Internet zu arbeiten, aber das sind nur vorübergehende Lösungen“, sagt die Ukrainerin. Und das Telegraf-Team berichtet über traumatische Ereignisse, die in der eigenen Stadt geschehen. Als Chefredakteurin bemerkt Lazorenko, wie sich Burnout auf Motivation und Kreativität auswirkt.
Kampf gegen Russland: Medien in der Ukraine brauchen Unterstützung
Auch auf Managementebene sind Journalisten nicht vor emotionaler und körperlicher Erschöpfung gefeit. Viele von ihnen kommen laut Frey aus Regionen, die derzeit besetzt sind oder täglich unter Beschuss stehen. Kollegen und Familien sind direkt betroffen. „Meine Freunde liegen im Sterben, meine Kinder und ich können nicht nach Hause zurückkehren, wir liegen nachts wach und haben einen sehr kurzen Planungshorizont“, sagt die Journalistin. Auch sie spricht von Burnout und Trauma bei ihren ukrainischen Kollegen.
Dazu kommen die direkten Attacken Russlands. Lazorenkos Redaktion war Ziel russischer Cyberangriffe, insbesondere im ersten Jahr des Großangriffs. Das Team weiß sich heute dagegen zu schützen, auch durch digitale Sicherheitsschulungen, aber das Risiko bleibt.
„Wir wissen, dass alles, was wir veröffentlichen, nicht nur von unserem Publikum gelesen wird, sondern auch von denen, die unabhängige Stimmen in der Ukraine zum Schweigen bringen wollen“, sagt sie. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Ukraine gehören russische Cyberangriffe ebenfalls zum Alltag. Ob Abfangen von Rundfunksignalen, Phishing-Kampagnen oder Hacker-Angriffe: Die russische Aggression ist laut Frey auch ein Informationskrieg.
Russland attackiert die Pressearbeit in der Ukraine
„Gerade jetzt, in Kriegszeiten, sehen wir, wie wichtig der Aufbau starker demokratischer Medien vor der umfassenden Invasion war“, sagt Oksana Brovko unserer Redaktion. Sie ist Direktorin des Verbands der unabhängigen Regionalverlage der Ukraine. Laut ihr wird die ukrainische Pressefreiheit vor allem von russischer Seite angegriffen.
Für Reporter ohne Grenzen steht fest: „Journalisten arbeiten in der Ukraine unter Lebensgefahr.“ Insgesamt 13 internationale und ukrainische Journalisten kamen seit Beginn der russischen Großinvasion ums Leben. Mehr als 100 wurden verletzt, sagt ein Sprecher der internationalen Organisation auf Merkur-Anfrage.
Trotz der Gefahren, der mentalen Last und Hürden wollen die Journalistinnen weitermachen. Wie das kleine Mädchen, von dem Lazorenko erzählt, unterdrücken wohl auch sie ihre Schmerzen – weil sie ums Überleben für ihre Arbeit, ihre Familie und ihr Land kämpfen.