In seiner Kindheit und Jugend gab es für Olaf Unverzart nur drei Himmelsrichtungen: Nord, Süd, West. Der Osten hingegen endete fünf Kilometer weiter an den Sperranlagen. Die Oberpfalz in den Achtzigerjahren. Zonenrandgebiet, Zollgrenzbezirk, Arsch der Welt.„Gefühlt war es da hinten, wo die Sonne aufging, zu Ende“, erinnert sich der 52-Jährige an die Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs an der Grenze zur Tschechoslowakei. Damals, als ihm die Amis beim Warten auf den Schulbus Kaugummis von den Panzern zuwarfen. Sein Vater spielte in einer Tanzband. Wenn er mit dem Lanz-Bulldog auf den Feldern ackerte, sprach er die englischen Liedtexte nach, die er sich in Lautschrift aufs Lenkrad geklebt hatte.
Aus dem Oberpfälzer Bauernbuben Olaf Unverzart ist längst ein international anerkannter und vielfach ausgezeichneter Fotograf und Dozent geworden. Seit den Neunzigerjahren hat er für große Magazine wie Geo, aber auch für das SZ-Magazin gearbeitet, bevor er dann einen Schritt weiter ging und sich fast ausschließlich der künstlerischen Fotografie zuwandte.
Für seine diversen Projekte, die er oft parallel verfolgt, lässt er sich viel Zeit. Ein Jahr lang begleitete er etwa das Leben seiner Großmutter – von ihrem 99. bis zu ihrem 100. Geburtstag. An seinem 2014 erschienenen Werk über die Alpen arbeitete er zwölf Jahre lang. „Alp“ ist alles andere als ein klassisches Tablebuch geworden, Sonnenuntergänge und Postkartenkitsch sucht man darin vergebens. Unverzart interessiert sich für Landschaften, die den „zweiten Blick“ brauchen, wie er es nennt. Für Gegenden, in denen der Mensch seine Spuren hinterlassen hat – und die sind auf den ersten Blick oft hässlich, gerade in den Alpen mit ihren Straßen, Skiliften und Hotels.
Der Fotokünstler Olaf Unverzart arbeitet oft jahrelang an seinen Projekten. (Foto: Olaf Unverzart)
Obwohl er viel unterwegs ist, hat ihn seine Heimat im Dorf Kritzenast bei Waldmünchen nie losgelassen. Unverzart pendelt zwischen München und der Oberpfalz hin und her. Dort liegt sein Rückzugsort, dort leben seine Eltern, dort ist alles am richtigen Platz. „Die Verwurzelung spielt eine große Rolle“, sagt er über sich. Seine Heimat ist die Bastion, aus der heraus er immer wieder mit der Kamera in die Welt hinauszieht.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass Unverzart der Oberpfalz nun einen eigenen Bildband gewidmet hat, seinen zwölften insgesamt. „Dahinten gehts nicht weiter“, heißt das 160 Seiten umfassende Werk, das im Dreieck zwischen Waldsassen, Regensburg und Lamer Winkel entstanden ist. Eine Gegend, die nicht nur Olaf Unverzart dunkler, rauer und kälter vorkommt als der Rest Bayerns. Vier Jahre lang er hat er daran gearbeitet, von 2020 bis 2024, ein Corona-Werk gewissermaßen. Denn als 2020 die Grenze zu Tschechien dicht war, stellte sich bei Unverzart auf einmal wieder dieses Zonenrandgefühl aus seiner Kindheit ein.
So zog er los, um mit der analogen Großbildkamera und einem Normalobjektiv seine Heimat zu erkunden und wenigstens teilweise das nachzuholen, was er in der Umbruchszeit am Ende des Ost-West-Konflikts versäumt hatte, weil sich ihm die Bedeutung der Zeitenwende erst in der Rückschau voll erschloss.
„Man muss es aushalten“, sagt Olaf Unverzart über seine Heimat und die Fotos, die er von ihr geschossen hat. (Foto: Olaf Unverzart)
Die Erinnerung an die Teilung Europas ist in der Oberpfalz bis heute vielerorts präsent, ob als Schneise in der Landschaft oder in Betonstraßen, auf denen einst der Bundesgrenzschutz patrouillierte. Auch hat die Grenzregion zu Tschechien trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in den vergangenen Jahrzehnten immer noch ihren spröden Charakter behalten.
Seine Aufnahmen, schreibt Unverzart im Vorwort zum Fotobuch, könnten auch aus einer anderen Zeit stammen. Die zurückhaltend bearbeiteten Schwarz-Weiß-Fotos zeigen aber das Heute: Hausfassaden – eine schrecklicher als die andere –, Solaranlagen, Garagenfronten, Biogasanlagen, Holzstapel, Dorfansichten. Dazwischen unspektakuläre Landschaften der Oberpfalz.
All das bietet sich dem Betrachter auf den ersten Blick wie ein Kompendium der Ödnis dar. Verstärkt wird der Eindruck der Verlassenheit dadurch, dass auf den Fotos weder Menschen noch Tiere zu sehen sind. Auch die vielen Gasthäuser stehen einsam und verwaist inmitten der Dörfer. Der Journalist Dieter Wieland schreibt über Unverzarts Buch: „Ich halte es nicht lang aus. Dass Heimat so furchtbar real sein kann. Ausweglos. So gut gemeint. Und so daneben.“
SZ Bayern auf Whatsapp
:Nachrichten aus der Bayern-Redaktion – jetzt auf Whatsapp abonnieren
Von Aschaffenburg bis Berchtesgaden: Das Bayern-Team der SZ ist im gesamten Freistaat für Sie unterwegs. Hier entlang, wenn Sie Geschichten, News und Hintergründe direkt aufs Handy bekommen möchten.
Zu gerne würde man wissen, wer in all diesen Häusern wohnt, denen so gut wie jeglicher Schmuck fehlt. Unverzart hat immer wieder mal Passanten getroffen, die ratlos daneben standen, wenn er bröckelnde Hausfassaden mit dem Stativ fotografierte. Auch bei seinen Vorträgen kommt schon mal die Frage auf, warum er sich nicht mit dem beschäftigt, was die Mehrheit für schön befindet. Er könnte doch auch Burgen, Schlösser und Kirchen fotografieren. Will er aber nicht.
Leerstand überall: Geschäfte und Wirtshäuser haben schon vor Jahren geschlossen. (Foto: Olaf Unverzart)
Unverzart beteuert, dass er die Oberpfalz keineswegs bloßstellen wolle. Es gehe ihm einfach darum, genau hinzuschauen.
Diese Kunst des Hinschauens beherrscht er. Kürzlich fotografierte er während eines Stipendiums auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Über sein Stativ hinweg blickte er 30 Minuten lang auf ein Stück Wald. Als Training gewissermaßen, zur Schärfung der Sinne. Offensichtlich hat es was gebracht. „Die Bilder sind super geworden“, sagt Unverzart.
Ob die Bilder von der Oberpfalz super geworden sind, hängt von den Erwartungen des Betrachters ab. Man kann sie ausschließlich als Zeugnisse der Tristesse abtun. Bei längerer Betrachtung verraten sie aber, wie sehr Unverzart im Grunde an seiner Heimat hängt. Denn das Brachiale und Improvisierte zeugt nach seiner Erfahrung auch von einer verschrobenen Originalität und einer liebenswerten Bescheidenheit: „Die Hinterwäldler hatten etwas zutiefst Liebenswertes. Die schroffen Eigenheiten empfand ich als logische Konsequenz des Zusammenspiels aus Landschaft, Klima und Geschichte.“
In der Oberpfalz, so könnte man hinzufügen, muss man sich gegenseitig nichts mit Geranien und Balkonen vorspielen. Da tut es an der Fassade auch die Eternitplatte.
Am Ende verrät „Dahinten gehts nicht weiter“ mindestens so viel über den Fotografen wie über die Gegend. „Heimat ist da, wo wir verstanden werden, und wo wir verstehen“, zitiert Unverzart den Philosophen Karl Jaspers. Unverzart hat die Oberpfalz verstanden. Es ist kein leicht konsumierbares Buch, das er vorgelegt hat, sondern spröde, ehrlich, abseitig und gerade deshalb irgendwie schön. Halt wie die Oberpfalz.
Olaf Unverzart, Dahinter gehts nicht weiter. Büro Wilhelm Verlag 2025, 39 Euro