Kolya verkauft seine Angst. Die Angst, nicht auf eine wichtige Warnung zu hören. Für drei, vier Bonbons und einen kleinen Schoko-Riegel wechselt die „Angst“ den Besitzer. Auf einem kleinen Zettel, in krakeligen Buchstaben von einem Zwölfjährigen geschrieben. Doch vorher erzählt der Junge, was er auf das Stück Papier geschrieben hat. Davon, wie seine Mutter, als die Sirenen erklingen, in den Keller will. Der Vater aber abwiegelt. Kolya war in seinem Zimmer, als die Granate einschlug. Seine Eltern überlebten die Explosion im Wohnzimmer nicht. Kolya wird sein Leben lang Narben auf der Haut tragen, wie die an seinem linken Oberarm. Und andere Narben, die unerträglich schmerzen, aber niemand sieht.
Vielleicht hat der Krieg mittlerweile schon den ganzen Wohnblock zum Einsturz gebracht, in dem Kolya aufwuchs. Pokrowsk ist heute eine leere, zerstörte Stadt unter russischem Artillerie-Beschuss. Kamikaze-Drohnen jagen nach allem, was sich noch auf der Straße und zwischen den Gebäuden bewegt. Pokrowsk hat als ein Lebensraum aufgehört zu existieren. Kolya wohnt jetzt bei Freunden seiner Eltern in der Großstadt Dnipro. Auch dort gibt es regelmäßig russische Drohnenangriffe.
Ängste zu verkaufen, sich zu öffnen, ist Teil der therapeutischen Arbeit
„Auf eine Warnung zu achten, kann alles entscheiden“, sagt Kolya, als er seinen Angst-Zettel übergibt. Ein Dutzend Kinder und Jugendliche sitzt auf in mit Styroporkügelchen gefüllten Kissen und Stühlen im Kreis. Alle haben sie ihre Ängste aufgeschrieben. Meist sind sie mit dem Krieg verbunden. Keiner tuschelt, wenn jemand seine „Angst“ vorstellt. Es herrscht Stille. Nur die Stimmen von denen, die erzählen, sind zu hören. Elvira, die es nicht zu Ruhe kommen lässt, dass vielleicht weitere geliebte Menschen getötet werden. Ihr Vater fiel an der Front. Ihr Mutter starb bei einem Einschlag, als sie für ihre Tochter einen Geburtstagskuchen kaufen wollte. Neben ihr sitzt Juliana, die sich vor dem Tod selbst fürchtet. Es sind dunkelste Ängste, von denen die Mädchen und Jungen berichten.
Der „Verkauf von Ängsten“ untereinander, das damit verbundene „Sich öffnen“, Zuhören und die Anteilnahme sind Teil der therapeutischen Arbeit im Feriencamp der Organisation „Gen Ukrainian“. Fast 50 Kinder und Jugendliche, die mindestens ein Elternteil durch Russlands Angriffskrieg verloren haben, nehmen daran teil. Das Feriencamp ist ein psychotherapeutischer Rückzugsort. Weitab von Drohnenangriffen, die viele der Kinder wieder erleben werden, wenn sie in ihre Wohnorte zurückkehren, die über die ganze Ukraine verteilt sind.
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Kolya ist bei den jüngeren Kinder beliebt, weil er so viel Rücksicht nimmt.
Foto: Till Mayer
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Kolya ist bei den jüngeren Kinder beliebt, weil er so viel Rücksicht nimmt.
Foto: Till Mayer
Kolya ist ein Junge, den sich einige von den Jüngsten des Camps sicherlich gerne als großen Bruder wünschen. Steht er bei der Obstausgabe an, lässt er die Jüngsten vor. Kurzhaarschnitt, hochgeschossen, ein freundliches Gesicht, dass immer wieder ein Lächeln findet. Selbst wenn seine Augen von tiefer Trauer erzählen. Wie bei all den anderen Jungen und Mädchen der Ferienmaßnahme, die in einem Erholungskomplex in den Karpaten, im äußersten Südwesten der Ukraine, stattfindet.
Am Morgen scheint die Sonne milde über die bewaldeten Bergrücken und eine große Wiese. Dort leuchtet ein gewaltiger Ballon, über dessen orangefarbener Kunststoffhaut sich ein Lächeln wie ein Halbmond zieht.
Zuhause darf Iwanka nicht über den Verlust sprechen, zu groß ist der Schmerz der Mutter
Die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammeln sich zum Morgensport. Kein Stimmengewirr. Stille. Die Stille wird in so vielen Momenten des Tags eine traurige Begleiterin bleiben. Die Betreuerin im Sport-Outfit lässt aus einer Box Pop-Songs tönen. Die ersten Übungen führt sie vor, dann übernehmen andere Kinder. Iwanka, neun Jahre, tritt stolz vor. Lässt den Kopf kreisen und schließt dabei die Augen. Ihr Vater starb als Soldat an der Front. Der Schmerz der Mutter ist so groß, dass das Kind zuhause kaum über den eigenen Verlust zu sprechen wagt, berichtet später eine Betreuerin.
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Kolya (Mitte) beim Morgensport. Der Tag im Camp beginnt für die Kinder mit Stille. Dann ist nur die Musik aus der Lautsprecher-Box zu hören.
Foto: Till Mayer
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Kolya (Mitte) beim Morgensport. Der Tag im Camp beginnt für die Kinder mit Stille. Dann ist nur die Musik aus der Lautsprecher-Box zu hören.
Foto: Till Mayer
Als Kolya an der Reihe ist, macht er Liegestützen vor. Aber eigentlich bewundern ihn die anderen Kinder, weil er zuhören kann. Nicht, weil er schon die Muskeln eines Heranwachsenden hat. Nach dem Morgensport geht es ins nahe Schwimmbad. Ein Junge ist aufgelöst. Kolya versucht, ihn zu beruhigen. Doch dafür bekommt er zuerst unschöne Worte von dem Buben zu hören. Kolya lässt ihm seine Wut und Trauer.
Am Schwimmbecken-Rand angekommen, holt der Krieg die Gruppe schnell wieder ein. Kriegsversehrte Soldaten, denen der Krieg Gliedmaßen, ganze Beine oder Arme weggerissen hat, nutzen den Pool für ihre Reha-Übungen. Rollstühle stehen unter Sonnenschirmen, und auf den Liegen haben die Soldaten ihre Krücken zurückgelassen.
Kolya blickt traurig, als er die Verwundungen der Soldaten sieht. Am benachbarten Becken mit dem Sprungturm geht es dann weiter mit der Angstüberwindung. Eine Elfjährige will ihren ersten Sprung vom Drei-Meter-Turm wagen. Sie blickt auf das blau schimmernde Wasser hinab und zählt mit ihrer Betreuerin rückwärts: drei-zwei-eins. Der Sprung bleibt aus. Die Betreuerin gibt ihr Zeit, keiner drängelt. Aber als sie dann springt, klatscht die ganze Gruppe Beifall. Es gibt aufmunternde Zurufe. Die Kinder haben es wieder einmal geschafft, die Stille zu durchbrechen. Dann geht es zurück in die Zimmer für das Mittagessen und eine Pause. Kolya plaudert mit dem Jungen von vorhin und legt ihm seinen Arm um die Schulter, als sie über den Weg zum Haus laufen.
In der Unterkunft warten zwei Hunde auf die Kinder. Olaf, eine französische Bulldogge, ist der ganz große Star. Der Hund gehört einer der sechs Psychologinnen, die zusammen mit fünf Tutorinnen und Tutoren die Kinder und Jugendlichen betreuen. Der Vierbeiner ist eine geduldige Seele, die den Dauer-Streichelmodus klaglos über sich ergehen lässt.
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Hund Olaf ist der Star bei den Kindern. Geduldig nimmt er nicht enden-wollende Streicheleinheiten hin.
Foto: Till Mayer
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Hund Olaf ist der Star bei den Kindern. Geduldig nimmt er nicht enden-wollende Streicheleinheiten hin.
Foto: Till Mayer
Dann ist da noch Labrador-Mischling Lola. Obwohl sie erst sieben Jahre alt ist, hat sie viele graue und weißen Haare rund um die Schnauze. „Sie ist selbst durch die Explosionen bei den russischen Angriffen traumatisiert“, sagt Psychologin Olena. Wenn sie aufgeregt ist, dann zittern ihre Muskeln an den Beinen. Manchmal kann es auch zu schweren epileptischen Anfällen kommen.
Den Krieg trägt wohl jeder in der Unterkunft in sich. Olena kommt aus Kyjiw, der Hauptstadt. Russland verstärkt derzeit seine Drohnen- und Raketenangriffe auf zivile Ziele in der ganzen Ukraine. Insbesondere auf die ukrainische Hauptstadt schicken die russischen Angreifer regelmäßig Hunderte von Drohnen und Raketen. Oft hören die Menschen die Explosionen der Luftabwehr und Einschläge über Stunden hinweg. Auch Hunde wie Lola mit einem deutlich empfindlicheren Gehör.
„Der Krieg ist schlecht für die mentale Gesundheit“, sagt die Psychologin
Die Psychologin hat selbst eine zwölfjährige Tochter. „Es ist eine furchtbare Zeit. Meine Tochter hat gelernt, mit der Situation umzugehen. Sie kennt die Regeln. Heult die Sirene, gilt es einen sicheren Platz zu finden. Natürlich machen ihr die Angriffe Angst. Nicht selten kommt sie nachts zu mir ins Bett gekrochen. Der Krieg ist schlecht für die mentale Gesundheit von so vielen von uns.“ Mehr Fachpersonal müsse ausgebildet werden, weitere Programme für Trainer von Psychologen und Ärzten aufgelegt werden. „Die ukrainische Gesellschaft muss lernen, mit Traumata umzugehen. Und wir machen Fortschritte“, erklärt sie.
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Pokrowsk, die Heimatstadt von Kolya, versinkt in Trümmern. Russische Drohnen jagen alles, was sich in der Stadt bewegt.
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Pokrowsk, die Heimatstadt von Kolya, versinkt in Trümmern. Russische Drohnen jagen alles, was sich in der Stadt bewegt.
Foto: Till Mayer
Die Zahlen, die Unicef dieses Jahr für die Ukraine bekannt gab, sind erschütternd: 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen zeigen Anzeichen eines Traumas. 38 Prozent der Erwachsenen erfüllen die Kriterien für eine psychische Störung. Fünf Millionen Kinder haben traumatische Erfahrungen wie Flucht, Zerstörung, Luftangriffe bis zum Verlust geliebter Menschen erlebt. Ihr Zugang zu Bildung und Entwicklungsmöglichkeiten wird durch den russischen Angriffskrieg eingeschränkt. Und die ununterbrochenen russischen Luftangriffe sollen eines rauben: das Vertrauen auf Sicherheit.
An all das erinnert die Vorsitzende und Gründerin von „Gen Ukrainian“, Oksana Lebedieva: „Der Folgen für die Psyche, die der Krieg fordert, wurde noch nie so umfassend erforscht wie aktuell. Die Erfahrung, die wir in diesem Krieg sammeln, ist wertvoll für die ganze Welt. Aber sie kommt zu einem schrecklichen Preis.“ Hinter der Bezeichnung „Camp“ stehe ein intensiver therapeutischer Prozess, eine „hoch strukturierte psychologische Intervention“, erklärt Oksana Lebedieva. Langfristige Unterstützung sei fundamental, fordert sie. Kolya werde auch im Anschluss weiter von „Gen Ukrainian“ betreut.
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Mit Gruppenübungen gewinnen die Kinder und Jugendlichen Vertrauen zueinander. Die Trauer steht ihnen oft ins Gesicht geschrieben.
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Mit Gruppenübungen gewinnen die Kinder und Jugendlichen Vertrauen zueinander. Die Trauer steht ihnen oft ins Gesicht geschrieben.
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Neben Psychologin Olena hängt ein Poster mit einer Ampel, die verschiedene Smileys zeigt. Im Grünen lächelt das Gesicht, aus dem roten Feld blickt es dagegen voller Furcht. „Wir erklären den Kindern und Jugendlichen, was sie tun müssen, wenn sie in die gelbe Phase kommen. Atemübungen zum Beispiel, das Gespräch suchen. Versuchen, Ruhe zu finden.“ Wichtig sei für die Heranwachsenden auch zu erkennen, die rote Phase hat begonnen: „Jetzt brauche ich dringend Hilfe, und ich habe das Recht, danach zu fragen.“ Im Camp gibt es Mal-Therapien, Gesprächstherapien, gemeinsame Spiele und Übungen. Und die Stille. Stille und Trauer gehören zusammen. Beides wird nach den drei Wochen weiter tief in den Kindern und Jugendlichen sein. Aber sie lernen, damit umzugehen. Es ist ein Anfang hier in den Karpaten, der in der Stille beginnt. Jedes dabei gewonnene Lächeln ist ein wertvoller Schritt.
Die Stille lastet auch auf dem Betreuer-Team. Manchmal fällt es den Betreuern schwer zu glauben, dass in dem Gebäude 50 junge Menschen untergebracht sind. „Umso schöner ist es, wenn es gelingt, dass die Kinder wieder Kinder sind, spielen und lachen. Das ist so wertvoll für mich“, sagt Olena.
Dann läuft Kolya vorbei. Er weiß, dass der Reporter aus Deutschland kommt. „Ich würde gerne einmal das BMW-Museum besuchen“, sagt der Junge. Der Zwölfjährige hat sich zuvor eigentlich als Audi-Fan geoutet. „Aber BMW haben meine Eltern mehr gemocht“, erklärt er nachdenklich. Zwei Sätze gibt er dem Reporter für deutsche Kinder mit: „Seid glücklich, dass ihre eure Eltern habt. Sie sind das Wichtigste.“ Würden seine Eltern noch leben, sie wären sicher eines: stolz auf ihren Sohn.
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Till Mayer
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