Eine Wendephase deutscher Geschichte, mahnend erzählt, aufwändig inszeniert und packend gespielt: „Das Spinnennetz“ ist ein langer, harscher und wichtiger Film, der jetzt wieder auf Blu-ray erhältlich ist.

Filmjuwelen

Regisseur Bernhard Wicki war eine wichtige Persönlichkeit für den deutschsprachigen Film. Allein schon, weil er als in Österreich geborener Träger der Schweizer Staatsbürgerschaft in Deutschland lebte und oftmals arbeitete – er war die wandelnde DACH-Region! Zudem inszenierte er mehrere Filme, die deutsche Kinohistorie geschrieben haben, wie den gefeierten Antikriegsfilm „Die Brücke“ von 1959.

Eine von Wickis prestigeträchtigsten Regiearbeiten war zugleich seine letzte: Das hochpolitische Historien-Thrillerdrama „Das Spinnennetz“ blickt auf gesellschaftliche Umbrüche in den Jahren 1918 bis 1923 und skizziert auf unbequeme Weise deutschen Opportunismus sowie die erbarmungslose Suche nach Sündenböcken. Dafür gab es unter anderem drei Deutsche Filmpreise in Gold! Jetzt lässt sich der Klassiker ganz leicht nachholen und neu erleben, denn diese Woche hat „Das Spinnennetz“ eine Neuauflage auf Blu-ray erhalten.

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Darum geht es in „Das Spinnennetz“

Die deutsche Bevölkerung in den Jahren zwischen den Weltkriegen: Ständig locken Karrierismus und Opportunismus in die nachhaltig zerstörerische Falle des Mitläufertums und Faschismus. Ein Exempel ist Leutnant Theodore Lohse (Ulrich Mühe), der nach dem Untergang des Kaiserreiches zunächst als Hauslehrer arbeitet, doch unentwegt nach Beziehungen sucht, die ihn in mächtigere Kreise bringen.

Durch ständige Tritte nach unten, dauerndes Buckeln nach oben, wiederholten Verrat, Mord und taktische Heirat gelangt er erst in eine rechtsextreme Geheimorganisation und dann ins Innenministerium…

Ein Passionsprojekt, das schlaucht

„Die faschistische Faszination ist nie verschwunden. Sie ist nach dem Krieg nur dünn überpinselt worden. Und die Jugendlichen heute vergöttern Gewalt“, beklagte Wicki 1989 im Magazin Der Spiegel. Diese Feststellung war einer der Gründe, weshalb er sich Joseph Roths „Das Spinnennetz“ annahm, einer erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ruhm gelangten, 1923 in der Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlichten Fortsetzungsgeschichte, die Satire, Poesie, Sozialstudie und derbe Tatsachenschilderung vereint.

Wickis mit Herzblut, Wut und Dringlichkeit versehene Adaption war als Mammutfilm angelegt – nicht nur angesichts ihrer über 190 Minuten langen Laufzeit, sondern auch hinsichtlich inszenatorischer Ansprüche. So hielt Der Spiegel fest, dass Wicki aus Authentizitätsgründen deutsches Saatgut zu einem der tschechischen Drehorte importieren ließ, weil sich der dort heimische Weizen nicht so im Wind wiegt, wie es Wicki aus seiner Kindheit kannte!

Dies ist nur ein Exempel für den detailversessenen Perfektionismus, den Wicki bei der Arbeit an „Das Spinnennetz“ verfolgte – zum Nachteil seiner eigenen Gesundheit. Nach etwa der Hälfte des Drehs erlitt er einen Schlaganfall, auf den er zuallererst mit dem besorgten Gedanken reagiert haben soll: „Was wird aus meinem Film?“

Ein Film, über den gestritten wurde

Nach einer fast dreijährigen Produktionszeit erhielt Wicki die Antwort: „Das Spinnennetz“ sollte zu einem viel diskutierten Werk werden. Der in den Historienstoff geflossene, inszenatorische und kunsthandwerkliche Aufwand fand gemeinhin Anklang, ebenso wie die komplexe, mit immenser Präsenz auftrumpfende Leistung des späteren „Das Leben der Anderen“-Hauptdarstellers Mühe.

Inhaltlich traf das Thrillerdrama bei Publikum und Presse damals allerdings nicht durchweg den richtigen Nerv. Feuilletonist Michael Althen beschrieb im Lifestyle-Magazin Tempo, dass nach der Premiere viel „diskutiert und analysiert, abgewogen und abgewiegelt“ wurde, was den an der Kontroverse interessierten Wicki jedoch zufrieden stellte. Auch bei namhaften deutschen Gremien sorgte „Das Spinnennetz“ für Spaltung:

Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden lobte Wickis „Darstellung der politischen und sozialen Situation nach dem Ersten Weltkrieg“, weil sie „mit Recht Gefühle der Beklemmung“ hinterlasse. Teile des Gremiums kritisierten aber den Mangel an Identifikationsfiguren, weshalb man sich nicht zur Spitzenbewertung durchringen konnte. Und laut Jürgen Knieps Zensur-Fachbuch „Keine Jugendfreigabe“ hätte die FSK dem Film aufgrund seiner emotionalen Drastik fast eine Freigabe ab 18 Jahren aufgebrummt. Letztlich habe man sich „angesichts des künstlerischen Niveaus“ des Films für die mildere Altersempfehlung ab 16 Jahren entschieden.

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Auch die relevante Botschaft des aufrüttelnd, mahnend umgesetzten Films führte dazu, dass die FSK ihn nach längeren Diskussionen einer größeren Altersspanne zugänglich machen wollte. Ein Blick auf zeitgenössische, positive Stimmen führt nachdrücklich vor Augen, dass „Das Spinnennetz“ nichts an Aktualität und Aussagekraft verloren hat. Etwa fasste Althen seine Gedanken über Wickis Werk zusammen: „Seine Verfilmung aus der Vorgeschichte des Nationalsozialismus, diese Karriere eines Speichelleckers, der Blut geleckt hat, kommt genau richtig in unsere Zeit, da der Nationalismus nach ein paar Wahlen ebenfalls Blut geleckt zu haben scheint.“

Und Der Spiegel urteilte angesichts dessen, dass „Das Spinnennetz“ zusätzlich zum Aufstieg einer national-selbstsüchtigen, Opfer fordernden Ideologie von deren beängstigenden Unzerstörbarkeit und der Leid ermöglichenden Bereitwilligkeit zum Wegschauen handelt: „Vielleicht hat Bernhard Wicki, der fast 70-jährige Außenseiter des deutschen Kinos, gar keinen historischen Film gedreht, sondern einen prophetischen.“

Ein anderer, deutscher Film, der schmerzt und Geschichte geschrieben hat, wurde ebenfalls mit einer Heimkino-Neuauflage bedacht. Mehr über den erschütterten Meilenstein erfahrt ihr im folgenden Artikel:

So erschütternd kann deutsches Kino sein: Dieser Klassiker legt den Finger direkt in die klaffende Wunde

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