Dafür, dass sich mehrere Tausend Menschen versammelt haben, ist es vor dem Bosnischen Konsulat in der Stuttgarter Olgastraße fast schon leise. Die Menschen sind zu einer Demonstration gekommen, aber es ist keine, bei der es darum geht, möglichst laut zu sein. Kein Skandieren, kein Megafon, kein Geschrei. Nur das Gemurmel der Teilnehmer ist zu hören. Viele von ihnen tragen eine kleine, grün-weiße Ansteckblume an ihren T-Shirts. „Es sind elf weiße Blüten, sie stehen für den 11. Juli“, erklärt der Teilnehmer Sejfuddin Dizdarević. „Und grün steht für die Hoffnung, dass das Leben trotzdem weitergeht.“
Die Menschen, die sich am Samstagnachmittag vor dem Bosnischen Konsulat versammelt haben, gedenken bei einem Trauermarsch in der Stuttgarter Innenstadt der Opfer des Genozids um den bosnischen Ort Srebrenica. In den Tagen vom 11. bis zum 19. Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Soldaten mehr als 8 000 Bosniaken, das sind Bosnier muslimischen Glaubens. Der Völkermord, der als das größte Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs gilt, jährt sich in diesem Jahr also zum 30. Mal.
Gedenken an 8 372 Opfer
Der Trauermarsch führt vom Bosnischen Konsulat in Stuttgart über den Rotebühlplatz und die Theodor-Heuss-Straße zum Stadtgarten. Wie viele Menschen genau an der Demonstration teilgenommen haben, ist schwer zu sagen, die Polizei macht keine genauen Angaben. Die Stuttgarterin Nermina Zolj, die den Marsch mit dem Verein „Srebrenica Awareness Network“ organisiert hat, geht von 7000 Teilnehmern aus. Den Trauermarsch gibt es seit 2015, drei Jahre später hat Zolj die Organisation übernommen.
„Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen nicht umsonst gestorben sind“, sagt die 46-Jährige. „Denn wenn wir das vergessen, wo führt uns das hin? Zurück in den Nationalsozialismus.“ Zolj stammt selbst aus einer bosniakischen Familie. Die 46-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem mit blutroter Schrift die Zahl 8 372 geschrieben steht. 8 372 ist die Zahl der Opfer, deren Namen inzwischen teilweise bekannt sind. Aber noch immer sind nicht alle Opfer bekannt und identifiziert. In Srebrenica selbst, wo es jedes Jahr eine große Gedenkfeier gibt, werden auch heute noch neu entdeckte Überreste begraben.
Teilnehmer haben den Krieg teils selbst erlebt
Der Stuttgarter Nermal Kanuric besucht den Trauermarsch jedes Jahr. Der 48-Jährige ist im bosnischen Bihać aufgewachsen und im Jahr 2009 nach Deutschland gekommen. Im Bosnienkrieg, in den auch der Genozid um Srebrenica einzuordnen ist, hat Kanuric Familienangehörige verloren. „Zum Trauermarsch zu kommen, ist das mindeste, was wir für unser Land tun können“, sagt Kanuric. Auch er selbst habe den Krieg miterlebt, als Schulkind sei er für 1231 Tage in seiner Heimatstadt eingesperrt gewesen. „Wir wollen zeigen, dass so etwas nie wieder passieren darf“, sagt er.
Der Trauermarsch führt unter anderem am Stuttgarter Rotebühlplatz vorbei. Foto: Andreas Rosar Fotoagentur-Stuttgart
Zemila Muratbegovic aus Freiburg hat auch ihren Sohn zum Trauermarsch mitgebracht. Der 12-Jährige trägt ein grünes Plakat, auf dem mit großen Buchstaben der 11. Juli 1995 steht. Muratbegovic ist es, wie vielen weiteren Besuchern wichtig, dass das Wissen auch an die nächste Generation weitergegeben wird. So lange ist es aber noch nicht her, dass sie ihrem Sohn erklärt hat, was in Srebrenica vor 30 Jahren geschehen ist. Sie habe warten wollen, bis er alt genug sei, um es zu begreifen. Nun wollte er aber selbst mit zum Marsch kommen, sagt der 12-Jährige. „Niemand darf vergessen, was passiert ist.“
„Hass bringt nur Zerstörung“
Auch seine Mutter hat Angehörige im Krieg verloren, ihr Elternhaus wurde komplett zerstört. Was sie mit ihrer Teilnahme an der Demonstration zeigen will: „Wir sind da, obwohl ihr versucht habt, uns zu vernichten, denn das beste, was wir für die Opfer tun können, ist weiterzuleben“, sagt sie. Genauso wichtig ist ihr aber – und auch das teilt sie mit den anderen Teilnehmern – friedlich zu demonstrieren. Denn: „Hass bringt nur Zerstörung.“
Am Ende des Trauermarsches treffen sich die Teilnehmer im Stadtgarten zu einer Gedenkfeier. Dort wurde mit Ansprachen und traditionellen Liedern an die Opfer erinnert. Reden hielten unter anderem der bosnische Botschafter Damir Arnaut, die bosnischstämmige Journalistin Melina Borčak und die Backnanger Autorin Mirsada Simchen-Kahrimanović. Simchen-Kahrimanović, hatte ihren Vater im Bosnienkrieg verloren und in ihrem Buch ihre Erfahrungen aufarbeitet. Sie prangert besonders den Umgang der Öffentlichkeit mit dem Genozid an. Am Ende beschließt die Organisatorin Nermina Zolj die Veranstaltung mit den Worten von Erich Kästner: „Glaubt nicht, ihr hättet Millionen Feinde. Euer einziger Feind heißt – Krieg.“