Die tägliche Auseinandersetzung mit Krebs kostet Kraft. Betroffene ziehen sich deshalb häufig aus der Gesellschaft zurück. Über etwas anderes als die Erkrankung zu sprechen, dazu fehlt oft der äußere Anlass. Im geschützten Umfeld der neuroästhetischen Führungen des Klinikums Stuttgart, Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl erhalten Erkrankte und Angehörige die Möglichkeit zur Teilhabe am öffentlichen Leben und Austausch, frei von alltäglichen Sorgen und Ängsten. Die Führungen für Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige finden an Kulturinstitutionen wie der Staatsgalerie Stuttgart, dem Kunstmuseum Stuttgart und – als Sommerprogramm – im städtischen Lapidarium statt.
Wie Kunst und Kultur den Therapiealltag ergänzen
Neuroonkologische Erkrankungen machen rund zwei Prozent aller Tumorarten aus und haben zumeist leider keine gute Prognose. Die Diagnose eines Hirntumors ist nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für Angehörige mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden. Neben neurologischen Defiziten bestehen oft kognitive Störungen beispielsweise in Form einer Einschränkung von Gedächtnisleistung, Konzentration, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Wissenschaftliche Untersuchungen auf den Gebieten der Neurowissenschaft, Neuroästhetik und Neuroplastizität konnten bereits darstellen, dass die Beschäftigung mit Kunst nicht nur sensorische Areale im Gehirn, welche für die Reizaufnahme zuständig sind, aktivieren, sondern auch Hirnareale, die zum Beispiel am kritischen Denken und Gedächtnis beteiligt sind, stimulieren kann. Die Beschäftigung mit Kunst fördert die Kreativität, verbessert die Kognition und das Gedächtnis, führt zu Entspannung, reduziert Angstzustände und kann somit die Lebensqualität – über alle Phasen der Therapie hinweg – entscheidend optimieren.
Hierbei ist der Projektinitiatorin Minou Nadji-Ohl, Neurochirurgin am Klinikum Stuttgart, wichtig, dass es sich zwar um ein therapiebegleitendes Angebot handelt, aber eines, das sehr wohl praktische Effekte auf den allgemeinen Gesundheitszustand der Teilnehmenden haben kann. „Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind nach den Führungen entspannter, das Stresslevel ist reduziert. Gleichzeitig bemerken wir eine erhöhte Konzentration.“
Eine das Projekt rahmende wissenschaftliche Studie in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Tübingen zur Kognition und Lebensqualität neuroonkologischer Patientinnen, Patienten und Angehöriger bei der Betrachtung von Kunst, bestätigt dies bereits auf qualitativ-individueller Ebene.
Pilotprojekt in deutschlandweit einzigartiger Umsetzungsform
Die neuroästhetischen Führungen von Minou Nadji-Ohl und dem freischaffenden Kunstvermittler Andreas Pinczewski transportieren die Erkenntnisse der Neurowissenschaft und Neuroästhetik seit zwei Jahren innerhalb von nichtöffentlichen Führungen in die Praxis. Die monatlich stattfindenden transdisziplinären Führungen sind auf 60 Minuten angelegt und widmen sich wechselnden übergeordneten Themenkomplexen. Nadji-Ohl und Pinczewski beleuchten das Leitmotiv der Rundgänge jeweils zu Beginn und im Weiteren verortet bei den ausgewählten Kunstwerken mit Erkenntnissen aus ihren Fachbereichen der Neuro- und Kunstwissenschaft.
Die Themen der Führungen werden nach Kriterien aus der Neuroästhetik und Gestaltungslehre gewählt. Zu jedem Thema werden gemeinsam Bilder aus den Sammlungen der Ausstellungsorte ausgesucht, in denen die entsprechenden Themen zu finden sind. „Gestaltorientiert zu arbeiten, heißt, dass wir die semantischen oder ikonographischen Inhalte zunächst außen vor lassen, ebenso die ästhetischen wie „schön“ oder „hässlich“ und uns stattdessen auf die rein visuell vorhandenen Fakten konzentrieren. Abstrakte Werke funktionieren in diesem Zusammenhang meist besser als darstellende und es führt zu oftmals überraschenden Ergebnissen, wenn erkannt wird, dass abstrakte und abbildende Werke gar nicht so weit voneinander entfernt sind wie gedacht“, erläutert der Kunstvermittler Pinczewski. „Aber auch sehr praktische Auswahlkriterien wie Laufwege spielen eine Rolle“, ergänzt Nadji-Ohl. Und führt aus: „Wir wollen die Teilnehmerinnen geistig und körperlich fördern, aber nicht überfordern.“
Das Projekt bildet somit in seiner Art und Umsetzung eine große Besonderheit: Während bei anderen nationalen und internationalen Formaten wie „Kunst auf Rezept“ lediglich ein kostenfreier Zugang zu musealen und kulturellen Angeboten ermöglicht wird, werden bei den Führungen von Nadji-Ohl und Pinczewski speziell auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abgestimmte Inhalte konzipiert. Führungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erhalten ein maßgeschneidertes transdisziplinäres Führungsprogramm, das fördernd auf das Wohlbefinden und die individuellen kognitiven Fördermöglichkeiten abgestimmt ist. Themenschwerpunkte wie „Symmetrie und Balance“ oder „Perspektive und Kontrast“ bilden die Rahmungen für die Führungen.
Stuttgart Cancer Center: Das begleitende kunsttherapeutische Angebot
Die Einblicke aus den zwei Bereichen dienen hierbei als direkte Anwendungseinladung und dem Dialog innerhalb der Gruppe. Die Erkenntnisse und Begegnungen mit der Kunst und in der Gruppe finden in einem Angebot der Kunsttherapie im Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl unter dem Namen „Kunst*Kraft*Werkstatt“ weiter Raum und Zeit für die Beschäftigung mit dem Gesehenen und Erlebten. Die Impulse und Ideen werden hier praktisch mit der Kunsttherapie – finanziert durch die Eva-Mayr-Stihl-Stiftung – künstlerisch übersetzt.
Projektentwicklung 2025: Inhaltliche und örtliche Erweiterungen
Die Erfahrungen der Pilotphase zeigen, dass das Vermittlungsangebot sehr gut angenommen wird. Aufgrund dessen hat sich das Klinikum Stuttgart entschieden, das Projekt inhaltlich auf weitere Krebserkrankungen auszuweiten. Neu hinzu kommt deshalb ein Angebot für Brustkrebspatientinnen- und -Patienten des zertifizierten Brustzentrums. Hierbei ist der Wunsch der Projektinitiatorin und Koordinatorin Nadji-Ohl jedoch, dass die Klassifikation nach Tumorentitäten perspektivisch keine Rolle mehr spielen wird, denn: „Anders als in Selbsthilfegruppen steht die Auseinandersetzung mit der Erkrankung und deren Therapieoptionen nicht im Vordergrund.“ Derzeit ergebe die Einteilung jedoch noch Sinn, um Erkenntnisse aus den beiden unterschiedlichen Gruppen für die Konzepterweiterungen nutzbar zu machen, so die Neuroonkologin.
Informationen zum Angebot
Das Angebot des Klinikums Stuttgart ist auf der Startseite des Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl einsehbar. Die Teilnahme an den Veranstaltungen ist dank Unterstützung des Thieme Verlages und der „Rainer Beck Stiftung für Kunst und Leben“ kostenfrei. Die Anzahl der Plätze ist limitiert, eine Anmeldung erforderlich.