Zensur mittels „weicher Verbote“

Dabei handelt es sich um sogenannte „weiche Verbote“ – das heißt, dass es keine offiziellen, vom Kreml erlassenen Listen verbotener Werke gibt. Das Vorgehen des Staates ist subtiler und jedes Mal ein wenig anders: Mal werden Bücher aus dem Verkauf genommen, mal werden sie konfisziert, bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt, oder den Händlern wird nahegelegt, Restbestände zu vernichten.

Mittlerweile stehen zudem Dutzende Autoren auf der Liste „ausländischer Agenten“, darunter international bekannte wie der Krimiautor Boris Akunin und Dmitrij Gluchowskij, der mit seinen düsteren, dystopischen Romanen bekannt geworden ist. Ihre Bücher sind zwar formal nicht verboten, dürfen aber nur in undurchsichtiger Verpackung mit dem Vermerk „ab 18 Jahren“ verkauft werden – was bedeutet, dass Cover und Titel vollständig verdeckt sind. Viele Buchhandlungen nehmen solche Werke lieber ganz aus dem Sortiment.

Das Ziel dahinter ist, die gesamte Branche in Angst und Unsicherheit zu versetzen – und damit die Selbstzensur zu fördern: Aus Angst vor Strafen und Problemen verzichten Verlage und Buchhandlungen von vornherein auf manche Titel und Autoren. Bücher verschwinden, bevor sie überhaupt beanstandet werden können. Dabei bleibt alles bewusst vage formuliert, sodass niemand genau weiß, welches Buch als unerwünscht gilt.

Absurde Auswüchse: Tote im Fokus

Mitunter nimmt die Zensur absurde Züge an. Der Verlag „Belaja Worona“ hat erst vor Kurzem den Verkauf mehrerer Bücher des Kinderbuchautors und Illustrators Sven Nordqvist über das Kätzchen Findus und seinen Besitzer Pettersson ausgesetzt, nur weil die Übersetzerin, Alexandra Poliwanowa, als ausländische Agentin eingestuft wurde.

Auch Werke von Autoren, die in der Sowjetunion als loyal galten, wurden bereits beschlagnahmt. Selbst Tote können der informellen Zensur zum Opfer fallen – so wie es in einer Petersburger Buchhandlung mit Büchern des 1997 verstorbenen Dichters Bulat Okudschawa geschah, nur weil das später verfasste Vorwort von Dmitij Bykow stammt, der schon Anfang der 2010er Jahre gegen die politischen Verhältnisse in Russland protestierte und 2022 als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt wurde. Sogar über einhundert Jahre alte Werke werden aus Bibliotheken entfernt, etwa ein philosophischer Essay über Sexualität von 1911.

Bücher mit queeren Themen tabu

Ein besonderer Fokus der Zensur liegt auf Büchern mit LGBT-Themen. Bereits im Dezember 2022 unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz, das die „Propagierung nichttraditioneller Beziehungen“ für Menschen jeden Alters untersagt. Zuvor galten entsprechende Verbote nur für Minderjährige. Das Gesetz sieht Strafen für das „Bewerben“, „Aufdrängen“ und die bloße „Darstellung“ von LGBT-Inhalten vor.

Wie dieses Verbot ausgelegt wird, zeigte sich an mehreren Eingriffen in den Buchhandel: Am 23. April 2024, dem Welttag des Buches, verschwanden gleich mehrere Bestseller aus dem Handel – unter anderem international anerkannte Werke mit queeren Inhalten, wie „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara, ein Roman über lebenslange Freundschaft, Trauma und die Identität schwuler Männer, sowie „Das Lied des Achill“ von Madeline Miller, das die Liebesgeschichte zwischen Achill und Patroklos in einer modernen literarischen Sprache neu erzählt. Die Verlagsgruppe AST stellte zudem den Verkauf von Büchern des Pulitzer-Preisträgers Michael Cunningham („Die Stunden“) und des Klassikers der amerikanischen Literatur James Baldwin ein – beides Autoren, die in ihren Werken offen homosexuelle Figuren und Themen behandeln.

Zensur wie in der Sowjetunion

Ebenfalls im April 2024 wurde dann de facto zur Aufsicht wie in Sowjet-Zeiten zurückgekehrt: Die Behörden richteten beim Russischen Buchverband ein Expertengremium ein, das Veröffentlichungen auf Gesetzeskonformität prüft. Mit dabei: Vertreter der Medienaufsichtsbehörde „Roskomnadsor“, der Russisch-Orthodoxen Kirche und militärhistorischer Gesellschaften. Ein solches Gremium lässt viele an die „Hauptverwaltung der Angelegenheiten der Literatur und des Verlagswesens (Glawlit)“ in der ehemaligen Sowjetunion denken, die bis 1991 für die staatliche Zensur zuständig war.

Für Aufsehen sorgte kürzlich eine Äußerung des früheren Kulturministers Michail Schwydkoi. In einem Beitrag für die Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ Anfang Juli kritisierte er die derzeitige Form der Zensur in Russland als ineffizient und chaotisch. Anstelle vager Verbote durch uninformierte Beamte plädiert Schwydkoi – einst als der liberalste Regierungsvertreter des Landes bekannt – für eine offene Rückkehr zu staatlich organisierter Zensur nach sowjetischem Vorbild, betrieben von professionellen Zensoren. Nur so lasse sich eine „gesunde Atmosphäre“ im Kulturbetrieb erhalten. Die frühere Zensur in der UdSSR, so Schwydkoi, habe immerhin klare Regeln geboten und dadurch vor willkürlicher Strafverfolgung geschützt.