Der frühere Finanz- und Aussenminister Jeremy Hunt ist der Meinung, Grossbritannien müsse global mehr Einfluss ausüben. Im Interview äussert er sich zur Krise seiner Konservativen Partei und sagt, was zentristische Politiker wie er von Donald Trump lernen können.
The Conservative Party Conference 2024 Day 2 International Convention Centre, Birmingham, UK. Monday 30th September, 2024. The second day of the Conservative Party Conference. The first event of the day – In Conversation with the Shadow Chancellor of the Exchequer – Jeremy Hunt, Credit:Abdullah Bailey / Avalon PUBLICATIONxNOTxINxUKxFRAxUSA Copyright: xAbdullahxBaileyx/xAvalonx 0914034446
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Jeremy Hunts Eckbüro im Unterhaus hat beste Aussicht auf den Big Ben und die Westminster Bridge. Das zeigt, dass er im Parlament noch immer einen besonderen Status geniesst, auch wenn er seit der Kanterniederlage der Tories vom Sommer 2024 nur noch gewöhnlicher Abgeordneter ist. In einer Ecke steht ein Kühlschrank voller Coca-Cola-light-Büchsen. An der Wand zwischen den Fenstern hängen Fotos aus seiner Zeit als Minister und von Treffen mit Papst Benedikt, Amal Clooney, Shinzo Abe, Henry Kissinger und Donald Trump.
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Es gibt kaum einen Kabinettsposten, den Hunt nicht bekleidet hat. Er diente unter David Cameron und Theresa May als Kulturminister, Gesundheitsminister und Aussenminister. 2022 holte Liz Truss den Zentristen als sicheren Wert in der Not an Bord; als Schatzkanzler sollte er von Truss’ Haushaltsplänen aufgeschreckte Investoren beruhigen. Das Amt des Finanzministers hatte er auch unter Rishi Sunak inne. Im Gegensatz zu vielen Parteikollegen konnte er bei der Unterhauswahl 2024 seinen Sitz in der Grafschaft Surrey südlich von London knapp verteidigen. Auf dem Tisch liegt sein Anfang Juni publiziertes Buch «Can We Be Great Again?». Das Schöne an der Arbeit als einfacher Abgeordneter sei, dass er nun mehr Zeit zum Lesen und Schreiben finde, sagt er.
Herr Hunt, wir erleben die Rückkehr der internationalen Grossmachtpolitik. Sie argumentieren in Ihrem Buch, Grossbritannien müsse sich auf seine alte Grösse zurückbesinnen. Ist das nicht Wunschdenken?
Die Idee zu dem Buch entstand, als ich 2018 Aussenminister wurde. Als britischer Aussenminister erhält man ein riesiges Büro, fast so gross wie ein Tennisplatz und weit eindrücklicher als das Büro des Premierministers. Ich fragte mich: Ist das eine alte Illusion aus Zeiten des Empires? Gleichzeitig haben wir Briten eine Tendenz, uns dauernd schlechtzureden und unseren Einfluss zu verkennen. Doch wir werden auch in fünfzehn Jahren noch zu den zehn grössten Volkswirtschaften zählen. Zudem sagen Experten, dass wir zu den fünf bis zehn Staaten gehörten, die echten globalen Einfluss hätten – von der Sicherheitspolitik über die Verteidigung der Demokratie bis hin zu Klimawandel und Migrationspolitik. Darum sage ich, und das würde ich auch an die Adresse von Ländern wie Deutschland oder Japan sagen: Die Welt wird gefährlicher. Darum dürfen wir uns nicht ins Schneckenhaus zurückziehen, sondern müssen Verantwortung übernehmen.
Im Nahen Osten spielt Grossbritannien bloss eine Zuschauerrolle.
Es gibt ausserhalb der USA kaum Regierungen, die einen echten Einfluss auf Israel haben. Doch kann Grossbritannien dank seinem Netz von Partnern dazu beitragen, dass ein regionaler Konflikt nicht zu einem Weltkrieg eskaliert.
Wie kann Grossbritannien seinen Einfluss geltend machen?
Es ist für Konservative aus der Mode geraten, die BBC zu loben. Aber in einer Ära von Fake News dürstet die Welt nach einem vertrauenswürdigen Medienportal, das objektiv berichtet. Die BBC ist der Sender, der weltweit am meisten Vertrauen geniesst. Aber sie ist bloss ein Schatten dessen, was sie sein könnte. Wir erleben einen Systemwettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien, da müssten wir BBC News in jeden Winkel der Welt projizieren. Am meisten aber können wir unseren Einfluss über unsere militärische Macht geltend machen, zumal autoritäre Herrscher wie Wladimir Putin nur die Sprache der Härte verstehen. Es braucht daher grosse Investitionen in die Verteidigung und eine Kombination von Hard Power und Soft Power.
Hat Grossbritannien mit dem Brexit aussenpolitischen Einfluss gewonnen oder verloren?
Es ist zu früh, um diese Frage zu beantworten. Ich stimmte gegen den Brexit, aber zweifelte nie daran, dass der Brexit für Grossbritannien zum Erfolg werden kann. Es gibt keinen Grund, warum wir als völlig unabhängiges Land nicht erfolgreich sein können, wie Kanada oder Australien. Flexibilität und Unabhängigkeit sind in einer instabilen Welt sogar grosse Vorteile. Wirtschaftlich ist eine Beurteilung des Brexits schwierig, weil wir zeitgleich mit dem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt den Schock der Covid-Pandemie erlebten.
Nun bringt die Angst vor einem amerikanischen Rückzug aus Europa Grossbritannien und die EU wieder näher zusammen.
Sicherheitspolitisch hat uns der Krieg in der Ukraine vor Augen geführt, dass uns mit den Kontinentaleuropäern viel mehr verbindet, als uns von ihnen trennt. David Cameron sagte einmal, um Macht und Einfluss zu haben, müsse man für andere nützlich sein. Nach Putins Angriff auf die Ukraine erwiesen wir uns für Europa als nützlich, indem wir eine Rolle als Fels in der europäischen Sicherheitsarchitektur übernahmen.
Kann sich Europa auch ohne die USA verteidigen?
In einem Punkt hat Donald Trump recht: Wir haben uns zu sehr abhängig gemacht von Amerika, das etwa einen Drittel der Kosten für die Verteidigung Europas schultert. Dennoch wäre ein amerikanischer Rückzug ein Desaster. Wir erhöhen nun zwar unsere Investitionen in die Armee, aber sind schlicht nicht in der Lage, die Ukraine ohne die USA zu verteidigen. Darum müsste ein Rückzug gestaffelt und schrittweise erfolgen, so dass wir die Lücken nach und nach füllen könnten.
Sie haben Donald Trump in Ihrer Zeit als Minister mehrmals getroffen. Als was für einen Politiker haben Sie ihn kennengelernt?
Ich traf ihn zum ersten Mal am Nato-Gipfel 2018 in Brüssel, als ich gerade seit zwei Tagen Aussenminister war. Trump und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel stritten sich, und wir befürchteten ernsthaft den Zerfall der Nato, bis Trumps Stabschef notfallmässig aus Washington anreiste und ihn umstimmte. Trump durchmisst einen Raum und spürt instinktiv, wer auf dem aufsteigenden Ast ist und wer Macht verliert. Und er setzt auf Schmeicheleien. Mir sagte er bei der Begrüssung, er habe grossartige Dinge von mir gehört, was ich doch stark bezweifelte.
Wie beurteilen Sie Trump heute?
Ich bin sicherlich kein Maga-Konservativer und habe wenig übrig für Trumps Ukraine- oder seine Zollpolitik. Gleichzeitig gilt es anzuerkennen, dass er sehr geschickt agiert und ein brillanter Kommunikator ist. Die liberalen Eliten haben ihn immer unterschätzt. Donald Trump erscheint jeden Tag im Fernsehen, schaut selber viel TV und verbringt viel Zeit in den sozialen Netzwerken. Ich habe als Minister vielleicht einmal pro Woche Medientermine wahrgenommen – immer etwas widerwillig und in der Hoffnung, dass ich nicht in eine Falle tappe. Es gehört zu den Ironien unserer Zeit, dass der zeitgenössische Politiker, der Social Media am besten beherrscht, schon fast achtzig Jahre alt ist. Da können klassische Mitte-rechts-Politiker wie ich viel von ihm lernen.
Wie beurteilen Sie den Labour-Premierminister Keir Starmer nach einem Jahr im Amt?
Starmer ist es gelungen, mit so unterschiedlichen Akteuren wie Trump und den europäischen Regierungschefs und EU-Vertretern ein gutes Einvernehmen zu finden. Sein aussenpolitischer Gestaltungswille ist spürbar. Zudem hat sich die Labour-Regierung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben bekannt. Diese ist allerdings nur mit einer Reform des Sozialstaats finanzierbar. Es wäre gut für die Wirtschaft, für den Staatshaushalt und für die Betroffenen selber, wenn wir die Ausgaben auf das Niveau von 2019 senken könnten und mehr Sozialhilfebezüger ins Arbeitsleben zurückkehrten. Leider ist die Labour-Regierung mit ihrem Reformversuch aufgelaufen. Aussenpolitisch agiert Starmer geschickt, aber innenpolitisch ist er eine grosse Enttäuschung.
Umfragen zeigen die rechtsnationale Reform-Partei von Nigel Farage in der Wählergunst klar in Führung, Ihre Tory-Partei liegt abgeschlagen auf dem dritten Platz. Liegt die letzte Hoffnung für die Konservativen in einem rechten Schulterschluss?
Es kann für uns Konservative keinen Schulterschluss mit Nigel Farage geben. Farage hat deutlich gemacht, dass er die Konservative Partei zerstören will. Das entzieht einer Zusammenarbeit jegliche Basis. Niemand weiss, wie die Welt bei der nächsten Unterhauswahl aussehen wird. Aber es gibt momentan eine riesige Marktlücke für eine Partei, die realisierbare Lösungen für die grossen Probleme unserer Zeit anbietet. Die britischen Konservativen sind die älteste politische Partei der westlichen Welt, und wir haben einen starken Überlebensinstinkt. Schreiben Sie uns nicht zu früh ab!
Ein Grund für den Erfolg von Reform UK ist die Migrationspolitik. Entgegen den Brexit-Versprechungen sind unter der Ägide der Konservativen die Migrationszahlen explodiert.
Es gab spezifische Faktoren wie die Flüchtlinge aus der Ukraine, Hongkong und Afghanistan. Aber es trifft zu, dass wir unsere Wirtschaft so ausrichten müssen, dass wir langfristig nicht mehr auf derart viele Migranten angewiesen sind. Am meisten ärgert die Leute aber die irreguläre Immigration über den Ärmelkanal. Ich selber bin mit einer Ausländerin verheiratet. Grossbritannien hat über Jahrhunderte Menschen aus aller Welt willkommen geheissen. Wir haben die zweitgrösste Zahl von Nobelpreisgewinnern nach den USA, und etwa die Hälfte von ihnen sind nicht in Grossbritannien geboren. Nun aber ist diese Offenheit gefährdet, weil die Bevölkerung den Eindruck hat, dass wir die Kontrolle über die Grenzen verloren haben.
Welche Lösungen sehen Sie?
Nigel Farage behauptet, die Konservativen und Labour seien eine «Einheitspartei». Das verfängt, weil wir Politiker in den vergangenen Jahren nicht verhindern konnten, dass Menschen per Boot irregulär ankommen und zu hohen Kosten für die Steuerzahler in Hotels untergebracht werden. Das untergräbt das Vertrauen in das Zweiparteiensystem, weshalb eine Lösung ebenso in unserem Interesse ist wie in jenem von Labour. Wir müssen die Rechte der individuellen Einsprache gegen Rückführungen einschränken und eine Reform der Europäischen Menschenrechtskonvention ins Auge fassen. Keir Starmer war früher Menschenrechtsanwalt. Wenn es in Europa einen Politiker gibt, der eine Reform des Völkerrechts im Migrationsbereich glaubwürdig anstossen könnte, dann ist er es.
Auch die wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit der Konservativen Partei hat gelitten – nicht zuletzt wegen Liz Truss.
Das Mini-Budget von Liz Truss war ein Fehler. Es hat keinen Sinn, hier Wortklauberei zu betreiben und das nicht klar zuzugeben. Ich war ja die Person, die als Schatzkanzler praktisch alle Massnahmen wieder rückgängig machte. Dann haben wir die Inflation in den Griff bekommen. Und innerhalb von vierzehn Jahren haben wir unter konservativer Führung vier Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann.
Boris Johnson versprach unter dem Schlagwort «levelling up», die Ungleichheiten zwischen dem armen Norden Englands und dem wohlhabenden Süden einzudämmen. Passiert ist wenig.
«Levelling up» ist ein Prozess, der Zeit braucht. Wir sind nicht nur als Land, sondern auch als Regierungssystem wahnsinnig zentralistisch organisiert. Ich hatte nie so grosse Macht wie als Schatzkanzler, da das Finanzministerium die anderen Ministerien an der kurzen Leine hält. Sie müssen für die lächerlichsten Ausgaben um Erlaubnis bitten. Und es gibt wohl kein anderes entwickeltes Land, in dem der Bürgermeister einer Stadt in der Grösse von Manchester in der Hauptstadt um Geld betteln muss, um ein neues Tram zu bauen. Hier brauchen wir dringend mehr echte lokale Demokratie wie in der Schweiz.