„Das Buch von Matthias Baerens hat für mich nach 38 Jahren den letzten Schlusspunkt gesetzt und mir Antworten auf letzte offene Fragen gegeben“, sagt Frank Scheffka. Er hatte bei dem Unglück am 12. Dezember 1986 seinen Bruder Andre verloren. Der Absturz der Aeroflot-Maschine kurz vor Berlin-Schönefeld forderte 72 Tote.
Die Klasse 10A gab es nach dem Unglück so nicht mehr
Besonders betroffen war die Stadt Schwerin, denn eine Schulklasse vom Großen Dreesch war mit an Bord. Die Klasse 10A der Ernst-Schneller-Schule gab es nach dem Flugzeugabsturz so nicht mehr. 20 Schüler, ihre Klassenleiterin und zwei Betreuer starben, nur sieben Kinder überlebten schwerverletzt.
Die Maschine aus Minsk war beim Landeanflug auf Berlin-Schönefeld in ein Waldstück in der Nähe des Ortes Bohnsdorf gestürzt. (Foto: Chris Hoffmann)
Zwei weitere Schlusspunkte in seiner persönlichen Trauer und Aufarbeitung des Verlustes seines fünf Jahre jüngeren Bruders konnte Frank Scheffka zuvor bereits setzen, wie er bekannte. Zum einen habe er die Schweriner Mädchen besucht, die den Flugzeugabsturz überlebt hatten. Der andere persönliche Schlusspunkt liegt noch weiter zurück.
Junger Medizinstudent besuchte seinen Bruder in Minsk
Frank Scheffka hatte 1986 in der damaligen Sowjetunion Medizin studiert. Als die 10A der Ernst-Schneller-Schule zur Abschlussfahrt nach Minsk flog, schaffte es Frank Scheffka, sich ein paar studienfreie Tage zu organisieren und flog von Wolgograd, wo er studierte, nach Minsk. Er wollte seinen Bruder Andre treffen und ihm und seinen Klassenkameraden sprachlich und organisatorisch helfen, damit die Abschlussfahrt ein beeindruckendes Erlebnis würde. „Außerdem hatte ich meinen Bruder lange nicht mehr gesehen“, erklärt Frank Scheffka.
Die letzten Tage mit der Klasse 10A
Im Minsker Hotel „Yubileiny“ quartierte er sich für drei Nächte kurzerhand bei seinem Bruder mit ein. „Wir haben wunderschöne Tage erlebt“, berichtet Frank Scheffka. Er begleitete die 10A auch zu einem Treffen mit Gleichaltrigen aus Minsk. Zwischen den Schwerinern und den Komsomolzen bahnten sich erste Freundschaften an, Kontaktdaten wurden ausgetauscht, ein Briefverkehr vereinbart.
Briefe aus Minsk blieben ohne Antwort
Zwei Tage nach seiner Rückkehr nach Wolgograd erfuhr Frank Scheffka durch eine DDR-Studiengruppe von dem Flugzeugabsturz. Sein 16 Jahre alter Bruder Andre war dabei ums Leben gekommen. „Monate später hatte ich Kontakt mit den Jugendlichen aus Minsk. Sie fragten verwundert nach, warum denn die Schweriner nicht auf ihre Briefe geantwortet haben“, berichtet Frank Scheffka. „Ich musste ihnen von dem tragischen Unglück und dem Tod der Schüler berichten.“
Am 15. Dezember 1986 erschien eine Liste mit den Namen der Todesopfer in allen DDR-Tageszeitungen. (Foto: Repro Matthias Baerens)
Sprachprobleme führten zum tragischen Unglück
Der Absturz des Aeroflot-Fluges 892 ist bis heute das zweitschwerste Flugzeugunglück auf deutschem Boden. Ursache dafür war menschliches Versagen. Das für den Funkverkehr zuständige Mitglied der sowjetischen Besatzung hatte beim Endanflug auf Berlin-Schönefeld eine englischsprachige Ansage der DDR-Flugaufsicht nicht richtig verstanden.
Rettungskräfte brauchten 20 Minuten bis zur Unfallstelle
Die TU 134-A stürzte kurz vor dem Flughafen Berlin-Schönefeld in ein Waldgebiet. Nur 100 Meter von der Absturzstelle entfernt befindet sich die Autobahn, nur 200 Meter weiter liegt der Ortsteil Berlin-Bohnsdorf. Anwohner und spontan anhaltende Autofahrer waren die ersten Helfer, die sich zum brennenden Flugzeugwrack wagten. Hauptsächlich ihnen ist es zu verdanken, dass zehn Menschen den Absturz überlebten. Es dauerte fast 20 Minuten, bevor Rettungskräfte und die Feuerwehr an der Unfallstelle eintrafen.
Staatssicherheitsdienst der DDR wurde schnell aktiv
„Noch bevor die Schweriner Eltern offiziell per Staatstelegramm vom Tod ihrer Kinder erfuhren, hatten Mitarbeiter der Stasi bereits am nächsten Vormittag, einem Sonnabend, alle Kaderakten der betroffenen Eltern in Schweriner Betrieben durchsucht. Für alle wurden Gefährder-Profile erstellt, mit Einschätzungen, wer sich antisowjetisch äußern könnte“, berichtet Autor Matthias Baerens.
Buchpräsentation vor 300 Besuchern im Wichernsaal
„Trauer unter Kontrolle. Der Flugzeugabsturz vom 12. Dezember 1986 bei Berlin-Bohnsdorf und die Folgen.“ heißt das Buch, das der Schweriner Journalist über das Unglück und die Folgen geschrieben hat. Am 24. März 2025 hat er es im restlos gefüllten Wichernsaal der Diakonie den rund 300 Besuchern erstmals vorgestellt. Es war eine eindrucksvolle, emotionale Präsentation, keine Lesung.
Im vollbesetzten Wichernsaal stellte Matthias Baerens sein Buch vor, unterstützt von Moderatorin Michaela Skott. (Foto: Timo Weber)
Matthias Baerens stellte das Buch in einer Multimedia-Präsentation vor, berichtete, wie er die zehn Kapitel, mehr als 200 Fotos und Abbildungen und 320 Seiten strukturiert hat und dass er „besonders stolz“ ist, im Vorfeld nicht nur mehr als 100 Gespräche mit Zeitzeugen geführt zu haben, sondern auch 28 Texte von direkt Betroffenen ins Buch mit aufnehmen konnte.
Der Autor geizte trotz des bewusst für diesen Abend gewählten Verzichts „auf das Vorlesen einzelner Fragmente des Buches“ nicht mit Anekdoten seiner umfangreichen jahrelangen Recherchen zu der Katastrophe.
Schweriner EOS-Schüler zur Trauerfeier „delegiert“
Dazu gehörte beispielsweise die von der Trauerfeier in Schwerin sechs Tage nach dem Unglück in der Halle am Fernsehturm. Nicht etwa Schüler der Ernst-Schneller-Schule zeigte die „Aktuelle Kamera“, die DDR-Nachrichtensendung, sondern eigens in Blauhemden der FDJ hingeschickte Jugendliche der Goethe-Oberschule. Da passte es, dass Musikschüler des heutigen Goethe-Gymnasiums bei der Buchpräsentation für den musikalischen Rahmen sorgten.
Unfallopfer unterstützten sowjetische Rüstungsindustrie
Oder die Anekdote, dass zu den Opfern des Absturzes neben den Schwerinern, einem Passagier aus Österreich und einer Reisebürogruppe aus Frankfurt/Oder auch Monteure aus den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt gehörten, die auf dem Heimflug waren von ihrer Arbeit in der sowjetischen Rüstungsindustrie. „Sie hatten an der Herstellung der Fahrwerke für sowjetische Atomraketen mitgearbeitet“, berichtet Matthias Baerens.
Landesbeauftragter Burkhard Bley: „Ein wichtiges Buch“
„Das Buch ist wichtig für die Angehörigen, aber auch für alle anderen, um aus der Vergangenheit zu lernen“, sagt Burkhard Bley, MV-Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. „Es zeigt am Einfluss der DDR-Funktionäre auf die Trauer der Angehörigen, dass es der SED nur um ihre Macht, nicht um die Menschen ging.“
Sein Buch über das verheerende Unglück 1986 will Matthias Baerens jetzt auch auf der Leipziger Buchmesse vom 27. bis 30. März 2025 vorstellen. (Foto: Repro Matthias Baerens)
Stasi in Angst vor Kritik am großen Bruder Sowjetunion
Denn 1986, kurz nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl im April, hatte ein Fährunglück im Schwarzen Meer im September mehr als 400 Tote gefordert, auch andere Aeroflot-Maschinen waren abgestürzt. Die Staatssicherheit und die SED waren in Sorge über mögliche antisowjetische Reaktionen in der DDR, besonders in Schwerin.
Auch der Leiter des Schweriner Stadtarchivs, Dr. Bernd Kasten, lobt das Buch: „Matthias Baerens hat Aktenüberlieferungen und Zeitzeugenerinnerungen schulbuchmäßig zusammengeführt.“
„Trauer unter Kontrolle. Der Flugzeugabsturz vom 12. Dezember 1986 bei Berlin-Bohnsdorf und die Folgen.“ ist für 38,60 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN/EAN: 978-3935046862).