Berlin. Kriegstüchtig marschierten sie nach Osten. Über den Don. Bis nach Stalingrad. 280.000 Mann. Die 6. Armee. Als die Stadt nur noch ein qualmendes Ruinenmeer war, schloss sich am 22. November 1942 der sowjetische Ring um die Wehrmacht. Ein Angebot zur Kapitulation vom 8. Januar 1943 wurde abgelehnt. Das große Sterben begann. Einen endlosen eisig kalten Monat lang.

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Bereits im September 1943 beginnt Theodor Plievier in Moskau seine Chronik eines bitteren Untergangs. Er kannte viele deutsche Soldatenbriefe, er sprach im Lager mit über 100 Offizieren und Landsern. Bis September 1944 erschien „Stalingrad“, der Roman, in Fortsetzungen in der Sowjetunion im Magazin „Internationale Literatur“, schon im Sommer 1945 im gerade gegründeten Aufbau Verlag in Ost-Berlin – und wurde ein Bestseller. In Ost und West.

Zum 80. Jahrestag des Erstdrucks

Doch was seither lieferbar ist, war immer die Urfassung. Nun hat der Aufbau Verlag, zum 80. Jahrestag des Erstdrucks, wieder jene Ausgabe zugänglich gemacht, die Plievier überarbeitet 1948 vorlegte. Da war der Autor bereits im Westen, abgestoßen von stalinistischen Tendenzen im Osten. Die kannte der von den Nazis verbotene Schriftsteller aus seiner Sowjetzeit seit 1934.

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Die DDR ignorierte ihn nicht, attackierte Plievier aber heftig ideologisch und verschwieg „Stalingrad“ (Exil Sowjetunion in der siebenbändigen Exil-Edition, Reclam Verlag, 1979). Im Westen hingegen galt er als kommunistisch beeinflusst. 1963 warnte der Generalinspekteur der Bundeswehr Foertsch ausdrücklich vor der TV-Adaption von „Stalingrad“.

„Stalingrad“ erzählt gnadenlos, wie Krieg wirklich ist

Also ein gefährlicher Roman? In Bildern, die an Hieronymus Bosch erinnern, malt Theodor Plievier eine Apokalypse. Kälte, Typhus, Ruhr, Hunger, Läuse, Eiter, abgerissene Glieder, zerstückelte, überfahrene Körper, Ärzte, die nicht mehr helfen können, dreinhalb Stunden Artilleriedröhnen über Ebenen, brennende Krankenstationen – ein Inferno. Wie hält man so etwas nur aus?

„Stalingrad“ erzählt gnadenlos, wie Krieg wirklich ist. Kein Computerspiel. Kein Action-Kino. Theodor Plievier ist in der vordersten Feuerlinie und im Stabsbunker, beim mörderischen Kampf um einen Platz in den wenigen Fliegern raus aus dem Kessel, in Sanitätskellern und Erdhöhlen. Ein blutiges Panorama mit rasch wechselnden Schauplätzen in Parallelmontage, hart getrennt zwischen Soldat und Stäben.

Die einen leiden, die anderen tafeln

Zwei Welten, die nichts verbindet. Während bei den einen gelitten wird, tafeln die anderen – und üben sich in Kadavergehorsam. Auch der Oberbefehlshaber Paulus tritt auf. Als müder Kommandeur, der dem fernen Hitler nicht widerspricht und nichts von Ausbruch wissen will. In einer gespenstischen Szene wird Görings verlogene Berliner Toten-Rede auf die untergehende 6. Armee in Stalingrads Theaterruine voll Sterbender und Leidender übertragen.

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Das Bittere für Plievier: Die Soldaten gehen lieber drauf als sich zu ergeben. Auch Unteroffizier Gnotke und Oberst, dann General Vilshofen, die beiden Hauptfiguren, halten durch. Da bleibt Plievier illusionslos und nüchtern. „Stalingrad“ ist ein Dokumentarroman (so wie es bereits „Des Kaisers Kulis“ über den Matrosenaufstand 1918 war), eine moralische Anklage, die früh schon Wehrmachts-Verbrechen an der Zivilbevölkerung anspricht – und Fragen stellt: „War dieser Krieg notwendig, war dieser Krieg uns aufgezwungen, und geht es um eine große und heilige Sache, ist dieser Krieg gerecht, und geht es um Deutschland? Verteidigen wir Deutschland am Njeschegol, am Oskol, am Don, an der Wolga, General?“ Es geht um sinnlose Opfer und die Flucht von Generälen, um das Grauen von Infanterie-, Panzer- und Artillerieangriffen. Harte, blutige, unter die Haut gehenden „Szenen eines Kriegstheaters im Moment des herabgehenden Vorhangs“.

Langfassung eines Weltbestsellers

Etwa 100 Seiten mehr als die Urfassung hat die „Stalingrad“-Version von 1948. Herausgeber Carsten Gansel schreibt im Nachwort, was alles verändert wurde, angefangen bei der Ansprache eines Generalstabsoffiziers, der auflistet, warum logistisch die Einigelung schiefgehen musste. In der Taschenbuchausgabe von Kiepenheuer & Witsch (die Urfassung) ist es nachzulesen.

„Stalingrad“ war Ende der 40er Jahre – neben Thomas Manns „Doktor Faustus“ – der meistrezensierte Roman, wurde in über 20 Sprachen übersetzt und in mehr als zwei Millionen Exemplaren weltweit verkauft. Vielleicht, weil er so genau und detailliert erzählt – und ideologiefrei bleibt. Was dann in der DDR Theodor Plievier lange Zeit angekreidet wurde, zumal er in seinen dokumentarischen Folgeromanen „Moskau“ und „Berlin“ vom Leben im Krieg und vom Untergang der Reichshauptstadt frei und ohne jede politische Beschränkung erzählte.

Auch 80 Jahre nach seinem Erscheinen in Deutschland (Rowohlts RoRoRo druckte sofort 100.000, Aufbau 30.000 Exemplare) ist „Stalingrad“ geblieben, was es sein sollte: ein Menetekel. Ein Buch gegen den Krieg. Ein Buch für den Frieden.

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Info: Theodor Plievier: Stalingrad. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag Berlin; 624 Seiten, 30 Euro

LVZ