Das Stuttgarter Rathaus gilt gemeinhin als ein friedlicher Ort, in dem sich seriöse Verwaltungsarbeit und engagierte Kommunalpolitik meist wunderbar ergänzen. Sinnbildlich für Konstanz und Gemächlichkeit rotiert tagaus, tagein der denkmalgeschützte Paternoster. Meist reiht sich ein ereignisloser Tag an den anderen. Kein Wunder, dass die Ausnahmen davon ewig in Erinnerung bleiben.
So etwa die berühmtesten (und folgenreichsten) Ohrfeigen der jüngeren Landesgeschichte, die im Untergeschoss des Rathauses verteilt worden waren. Es war der Abend des 24. Oktober 2004, gerade hatte der Stuttgarter OB Wolfgang Schuster mit Ach und Krach seine Wiederwahl geschafft – das hatten ihm nicht einmal die engsten Parteifreunde zugetraut. Ausgenommen der damalige CDU-Kreisvorsitzende Christoph Palmer, damals 42 Jahre jung, Minister im Staatsministerium und enger Vertrauter des Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Palmer wirkte wie aufgedreht, als die ersten Ergebnisse den Sieg seines Protagonisten über die SPD-Kandidatin Ute Kumpf auf der Leinwand des Sitzungssaals signalisierten. Seine innige Umarmung der konsternierten Grünen-Chefin Ursula Marx deutete die Ausnahmesituation an, in der Palmer sich befand.
Live und in Farbe: Die Ohrfeigen
Am späten Abend, die Stuttgarter Zeitung mit Schusters Sieg auf der Titelseite war gedruckt, fand im Ratskeller, wohin sich die CDU traditionell zum Feiern zurückzieht, Palmers Karriere ein jähes Ende. Vor den Augen des Schreibers dieser Zeilen ging er auf seinen Parteifreund, den Bundestagsabgeordneten Joachim Pfeiffer, los und verpasste ihm zwei Ohrfeigen, die es in sich hatten.
Während Palmer flüchtete, versuchten Parteifreunde, die Augenzeugen geworden waren, wie auch Pfeiffer so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Bei der CDU war man sich sicher, dass kein Pressevertreter den Eklat beobachtet hatte. Zu später Stunde versuchten der mittlerweile an den Tatort zurückgekehrte Palmer und Pfeiffer im kurzfristig anberaumten Pressegespräch die aufgekommenen Gerüchte über einen handfesten Streit zu zerstreuen: Man habe sich nur „geknufft“.
Am Sonntag passiert – am Montag in der Zeitung
Jedoch vergeblich: Die Titelseite der Stuttgarter Zeitung war schon aktualisiert. Die Ohrfeigen-Affäre prägte am Montag die Titelseite der Stuttgarter Zeitung – auf den Konjunktiv konnte getrost verzichtet werden. Christoph Palmer, der Pfeiffer im Verdacht hatte, als Mitglied einer gegen Ministerpräsident Erwin Teufel kämpfenden Gruppe zu intrigieren, trat sofort zurück. Teufel erklärte, nicht erneut zu kandidieren.
Kein Ereignis beschäftigt die Stuttgarter Kommunalpolitik aber so lange wie der Stuttgarter Klinikum-Skandal. 2015 war der Vorwurf laut geworden, die Behandlung von 370 libyschen Kriegsversehrten seit 2013 sei ebenso wie ein Beratungsprojekt mit einem Krankenhaus in Kuwait wegen Betrügereien aus dem Ruder gelaufen. Drei Dienstleister wurden vom Landgericht Stuttgart zu teils langen Haftstrafen verurteilt. Der ehemalige Leiter der zuständigen Internationalen Abteilung muss womöglich für fast fünf Jahre ins Gefängnis. Die Verhandlungen gegen die ehemaligen Führungskräfte stehen noch aus. Mehr als außergewöhnlich ist, dass mit Werner Wölfle auch der ehemalige Krankenhausbürgermeister auf der Anklagebank sitzen wird. Ein Untreueverdacht lastet schwer auf ihm. Er sah sich deshalb veranlasst, seine berufliche Karriere vorzeitig zu beenden.
Vergiftetes Klima im Rathaus
Das wäre sicher nicht passiert, hätte er sich 2010 als Fraktionschef der Grünen bei der Wahl des Sozialbürgermeisters durchgesetzt. Seine berufliche Vita hatte ihn für den Posten prädestiniert, die Mehrheit schien sicher. Am Ende fehlte ihm gegen die FDP-Kandidatin Isabel Fezer aber eine Stimme. Wölfle wechselte später doch noch auf die Bürgermeisterbank, war dann – unglücklich für ihn – auch für Krankenhäuser zuständig.
Lange bevor der Klinikum-Skandal vor dem Landgericht verhandelt wurde, hatte der Fall das Klima im Rathaus vergiftet. Fast alle gegen OB Fritz Kuhn (Grüne) hieß es plötzlich, weil aus Sicht der Ratsmehrheit Wölfles Parteifreund von den Merkwürdigkeiten etwas mitbekommen haben musste. Der Gemeinderat bildete einen Akteneinsichtsausschuss, um sich anhand interner Unterlagen ein Bild von den Ereignissen zu machen. Heute weiß man, dass eine Handvoll Mails, aus dem Zusammenhang gerissene Whats-App-Kommunikation und die Lektüre einiger Akten nicht geeignet waren, sich ein Bild vom Ablauf zu machen und Fritz Kuhn eine Mitverantwortung zuzuschreiben. Zum Vergleich: Der 20. Kammer des Landgerichts stehen Unterlagen im Umfang von 16 Terabyte zur Verfügung, die systematisch geordnet und gesichtet wurden.
Streit um Goldenen Handschlag
Die Unschuldsvermutung gilt für Ex-Geschäftsführer Ralf-Michael Schmitz, der die Gesamtverantwortung trug, wie für Werner Wölfle. Was sich die Rathausspitze vorhalten lassen muss, war die dilettantische Vorgehensweise bei der Auflösung von Schmitz’ Vertrag. Der „Goldene Handschlag“, mit dem man den damals 55-Jährigen in den Ruhestand verabschiedete, war ohne den Gemeinderat vereinbart worden. Die Heimlichtuerei, durch die eine außerordentliche Kündigung unmöglich wurde, sorgte für erhebliche Missstimmung im Gemeinderat.