Sophia Martinez schwelgte im Luxus, weil sie den Ex-Bürgermeister von Agde mit einer erfundenen Stimme manipulierte. Jetzt warten die Hellseherin und der Politiker auf ihren Prozess.

Gilles d’Ettore, der ehemalige Bürgermeister von Agde, während einer Wahlkampfveranstaltung im Jahr 2012. Gilles d’Ettore, der ehemalige Bürgermeister von Agde, während einer Wahlkampfveranstaltung im Jahr 2012.

Imago

Die französische Mittelmeerstadt Agde ist bekannt für ihre malerischen Häuser aus Vulkanstein. Für Europas grösste Nudistenkolonie. Oder für die Bourride, ein mit viel Knoblauch zubereitetes Fischragout. Seit neuestem steht Agde aber auch für eine der bizarrsten Korruptionsaffären des Landes. Sie handelt von Stimmen aus dem Jenseits, einer attraktiven Schwindlerin und einem leichtgläubigen Politiker, also eigentlich von allem, was gute Unterhaltung verspricht.

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Wie von Geisterhand bewegt

Gilles d’Ettore, der ehemalige Bürgermeister von Agde und ein Mitglied der konservativen Partei Les Républicains, steht im Mittelpunkt des Skandals. Der 57-Jährige liess sich über Jahre von einer selbsternannten Hellseherin namens Sophia Martinez manipulieren. Die 44-Jährige behauptete, mit Toten kommunizieren zu können und Zugang zu himmlischen Instanzen zu haben.

2020 trafen sie und d’Ettore erstmals bei einer spirituellen Sitzung zusammen. Dort erlebte der Bürgermeister, wie aus dem Nichts eine tiefe Männerstimme zu ihm sprach. Sie nannte sich «Papa» und klang für d’Ettore so überzeugend nach seinem verstorbenen Vater, dass er keine Zweifel an ihrer Echtheit hatte. Den Verlust seines Vaters viele Jahre zuvor hatte der frühere Geheimdienstoffizier nie ganz verwunden.

Sophia Martinez.

Fortan meldete sich «Papa» regelmässig bei d’Ettore, manchmal mehrmals am Tag. Die Stimme am Telefon gab Ratschläge, sprach von göttlicher Bestimmung und forderte Loyalität gegenüber «Sophia», also der Frau, durch die sie angeblich sprach. Martinez sollte von d’Ettore vor allem Bösen beschützt und nach Kräften unterstützt werden.

Zum Beispiel mit kostenlosen Besuchen für zwei ihrer sechs Kinder an einer Privatschule, mit täglichen Chauffeurdiensten, mit einem Posten für ihren Ehemann in der Stadtverwaltung oder mit einer Genehmigung für den Bau einer Villa in einem Naturschutzgebiet. Wenn der Bürgermeister Wünsche nicht direkt erfüllen konnte, sprang sein Netzwerk ein: Handwerker renovierten Sophias Haus, Firmen spendierten eine neue Küche oder eine Gartenanlage mit Palmen.

Den Höhepunkt der Gefälligkeiten bildete eine Hochzeit für Sophia im August 2023: Bei der opulenten Feier im Château Sainte-Cécile mit 300 Gästen, Gospelchor, weissen Tauben und Champagnersäbel durfte Gilles d’Ettore die Braut persönlich zum Altar führen. Auch hier übernahmen Unternehmer aus Agde, die sich d’Ettore verpflichtet fühlten, die Kosten. Ermittler schätzen den finanziellen Schaden für die öffentliche Hand auf rund 300 000 Euro.

D’Ettore war überzeugt, dass Martinez ein Engel sei, und pries ihre Dienste gegenüber Freunden. Zu ihrer Kundschaft gehörten Politiker, Polizisten, Ärzte, Richter, die sich die Karten legen liessen oder mit Verstorbenen sprechen wollten. Besucher solcher Sitzungen beschrieben die Frau mit der langen schwarzen Mähne als charismatisch und geheimnisvoll und berichteten von Möbelstücken, die sich von Geisterhand bewegt hätten, oder wie der 44-Jährigen einmal Blut aus ihren Fingern geflossen sei.

Erstaunliche Stimmakrobatik

Der Schwindel flog auf, als Ende 2023 auch Géraldine d’Ettore, die Ex-Frau des Bürgermeisters, Anrufe von der rauen Männerstimme erhielt und die Polizei einschaltete. Die Telefonüberwachung führte zu Martinez, und so stellte sich heraus, dass die Hellseherin nicht nur eine gewiefte Manipulatorin, sondern auch eine talentierte Bauchrednerin war. Ihre echte Stimme war ganz anders als die des angeblichen «Papas». Doch mit verblüffender Stimmakrobatik konnte sie ihre Opfer täuschen.

Mitte März nahm die Polizei Gilles d’Ettore, Sophia Martinez und ihren Ehemann wegen Amtsmissbrauchs, Veruntreuung öffentlicher Gelder, Bestechlichkeit und Betrug in Gewahrsam. Bei ihrer Vernehmung gestand Martinez alles. Sie sprach davon, wie sie sich von alldem, was plötzlich möglich gewesen sei, habe mitreissen lassen.

Und D’Ettore? Der Republikaner, bis dahin eine feste Grösse in der Lokalpolitik, legte sein Amt nieder und trat aus seiner Partei aus. Der Prozess gegen ihn, die Hellseherin und fünfzehn weitere Angeklagte soll im Herbst beginnen. Laut seinem Anwalt belastet ihn das Geschehene schwer. «Er hat Papa sehr geliebt», sagte Martinez gegenüber den Ermittlern.