Helfer des Holocaust und Widerständler gegen den Nationalsozialismus – so widersprüchlich können deutsche Biografien des 20. Jahrhunderts sein. Franz Jürgens (1895–1945), Oberstleutnant der Schutzpolizei, schloss sich im April 1945 der „Aktion Rheinland“ an, die Düsseldorf kampflos an die Alliierten übergab; dafür wurde er von einem Standgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Kostenpflichtiger Inhalt Im Krieg war er in Darmstadt für den Transport von Juden in die Vernichtungslager mitverantwortlich gewesen. Schon 1949 wurde der Platz in Unterbilk nach ihm benannt, an dem sich auch das Polizeipräsidium befindet.
Jürgens‘ Rolle in Darmstadt wurde in Düsseldorf erst vor wenigen Jahren publik; seither tobte die Debatte um den Straßennamen. Vorerst beendet, aber möglicherweise nicht befriedet wurde sie mit der Entscheidung zur Umbenennung – in das neutrale „Am Polizeipräsidium“ für den Platz selbst, in „Edith-Fürst-Straße“, nach einem Düsseldorfer Holocaustopfer, für die angrenzende Straße.
Miterfinder der Dolchstoßlegende
Der Jürgensplatz ist schon ein auffälliges Beispiel für eine Namensdebatte 80 Jahre nach dem Krieg; es geht allerdings noch prominenter, in Mönchengladbach. Dort gingen die Stadtväter 1916 aufs Ganze und benannten die heutige Haupteinkaufsstraße nach Paul von Hindenburg (1847–1934), damals Generalfeldmarschall des Deutschen Kaiserreichs, später Reichspräsident der Weimarer Republik. Ein Monarchist, Antidemokrat und Reaktionär, der nach 1918 die Dolchstoßlegende miterfand, wonach die revolutionäre Heimat dem siegreichen Heer in den Rücken gefallen sei, der sich trotzdem 1925 herbeiließ, den Ersatzkaiser zu geben, und 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte. Forderungen nach Umbenennung sind in Gladbach immer wieder gescheitert, zuletzt 2024; Kostenpflichtiger Inhalt nun unterrichtet ein „Informationspfad“ vor Ort über Hindenburgs unseliges Wirken.
In Münster machte man es 2012 anders: Streiche Hindenburgplatz, setze Schlossplatz. Die dort sitzende Westfälische Wilhelms-Universität warf 2023 gleich beide Namenszusätze mit ab, um nicht weiter Wilhelm II. die Ehre zu geben. Weitere Namensdebatten werden landauf, landab im Dutzend geführt. In Dormagen votierte der Rat 2022 gegen eine Enthindenburgisierung; auch dort soll es Informationstafeln geben.
Straßennamen sind, sofern sie nicht banale Ortsbezeichnungen oder Tiernamen tragen, historisches Alltagsgut. Sie vermitteln ein Geschichtsbild ihrer Zeit, eine Sicht der Welt, schärfer gesagt: Sie transportieren (demokratische wie antidemokratische) Weltanschauung und Machtverhältnisse. Von „Benennungskonjunkturen“ spricht der Historiker Rainer Pöppinghege.
Eins ist allen Umbenennungsdebatten gemein: Sie sind schmerzhaft, ja quälend. Selten sind die Namenspaten ja, siehe Jürgens, eindeutig Verbrecher oder historische Verderber – die Adolf-Hitler- und Hermann-Göring-Straßen sind längst verschwunden. Die Grauzone ist groß, das Grau unendlich fein schattiert. Was ist mit Erwin Rommel? Nationalist und Hitlers „Wüstenfuchs“, Kontakte zum Widerstand. Richard Wagner? Genialer Komponist, Antisemit, Hitlers Idol. Hermann Löns? Nationalist, Chauvinist und populärer Heimatdichter. Über Löns und Rommel wird bereits diskutiert, Wagner scheint (noch) sakrosankt.
Wenn nicht um die willigen Helfer des Nationalsozialismus, geht es in den deutschen Straßenkämpfen meist um die Hohenzollern und ihre willigen Kolonialherren. Preußens Glanz und Gloria ist matt geworden; Wilhelm- und Friedrichstraßen werden inzwischen kaum noch als untertänige Huldigung wahrgenommen, Spichernstraßen nicht mehr als Erinnerung an den Krieg 1870. Die Düsseldorfer Königsallee (benannt nach Friedrich Wilhelm IV.) umzubenennen, dürfte ebenso aussichtslos wie übertrieben sein. Krefeld hingegen leistet sich trotz wiederkehrender Debatten weiterhin ein Kaiser-Wilhelm-Museum. Nun könnte man sagen, es sei die Höchststrafe für den ersten Preußenkaiser, unter seinem Namen moderne Kunst auszustellen; aber das ist dann doch allzu feine Dialektik. Der Name bleibt hängen.
Zweifel an der repräsentativen Demokratie
Umbenennungen sind fast immer unpopulär, denn sie bringen Beschwernis nicht nur der Kommune, sondern in erster Linie den Anrainern. Sie stellen persönlich-historische, vielleicht lokalpatriotische scheinbare Gewissheiten der Ehrbarkeit infrage, und bei manchen nähren sie, vorsichtig gesagt, Zweifel an den Verfahren der repräsentativen Demokratie, die selbst in solchen allervorörtlichsten Dingen „über die Köpfe hinweg“ entscheide, wie es dann gern heißt. Manche Umbenennung unterbleibt schlicht aus Angst vorm Anwohner.
Verwiesen wird dann gern auch auf die vielen Thälmann-Straßen in Ostdeutschland, die einen Stalinisten ehren, und auf die Lenin-Alleen in Frankreich, als wenn das nur eines der Probleme in Dormagen oder Düsseldorf lösen würde. Und mit dem Erstarken der AfD mischt sich in die Debatte auch ein Ton, der „Mohrenstraße“ ebenso wie „Zigeunerschnitzel“ rein aus Prinzip sagen will, weil das immer schon so war und dies ja ein freies Land sei, aus purer hartherziger Anstandslosigkeit (wie schon beim „Mohren“) gegenüber Gefühlen der Diskriminierung bei anderen.
Die Benennung einer Straße stelle „eine hohe Form der Ehrung“ dar, hielt der Deutsche Städtetag 2021 in einer Handreichung fest. Dass die Stadt Mönchengladbach auf ihrer Website festhält, den Namen Hindenburgstraße wolle man „nicht mehr als Ehrung und Andenken“ verstehen, zeigt die abenteuerliche Gedankenakrobatik, die erforderlich ist, um ein Festhalten zu begründen: Hindenburg im Herzen der Stadt zu behalten, ist schon eine sehr spezielle Form der Distanzierung.
Und so sind die Straßennamen nur ein Teil eines größeren Problems, nämlich der Unachtsamkeit gegenüber dem öffentlichen Raum, in diesem Fall: der historischen Landschaft, in der wir alle uns bewegen. Das führt zu so grotesken Zuständen wie dem, dass es in Duisburg eine Mafiastraße gibt. In Duisburg, der Stadt des Sechsfachmordes der ‘Ndrangheta mitten im Zentrum 2007. Natürlich ehrt die Mafiastraße nicht das organisierte Verbrechen, sondern erinnert an eine Insel im ehemaligen Deutsch-Ostafrika. Sie liegt im (von den Nazis angelegten) Afrikanischen Viertel in Buchholz; seit 2022 klärt eine Hinweistafel darüber auf. Historisch obskurer allerdings geht es kaum – wer kennt schon die Insel Mafia? Niemand. Wer die Mafiamorde? Alle. Zum Glück ist die Mafiastraße kurz. Und man hat ja Informationsstelen und Hinweistafeln. Wer die liest? Unklar.
Nebenbei lässt sich aus alldem noch etwas lernen über den Unterschied zwischen sinnvollem Kompromiss (nüchtern in Düsseldorf, geradezu weise, siehe Infobox, in Köln) und rheinischer Lösung. In Düsseldorf hat man die rheinische Lösung vermieden. Dort war vorgeschlagen worden, den Jürgensplatz einfach Jürgensplatz heißen zu lassen, ihn aber nicht Franz, sondern Udo zu widmen. Über so viel fröhliche Dreistigkeit mag man lächeln – historisch wäre es schlicht unwürdig gewesen.
Nicht so unwürdig allerdings wie Hindenburg.