Vor 30 Jahren eröffnete Pauls Boutique, ein Paradies der Nacht im Kartenhäusle auf dem Kleinen Schlossplatz. Noch heute erinnern sich viele an eine wilde Zeit.
Er ist einer der emotionalsten Orte von Stuttgart: Seit Kriegsende hat sich der Kleine Schlossplatz so oft von Grund auf verändert wie kaum ein anderer Platz im Kessel. Und stets ist heftig über den Wandel gestritten worden. Vom Kronprinzenpalais in Monarchiezeiten über den Kleinen Schlossplatz mit Flower-Power-Schick bis hin zum hochgelobten Kunstmuseum – das war ein langer Weg, der Stadtgeschichte geschrieben hat. Unser Stuttgart-Album erinnert heute an Pauls Boutique, die im Juli 1995, also vor genau 30 Jahren, im früheren Kartenhäusle eröffnet hat – und Stuttgart damit cooler machte.
im Dezember 1968 brach – flower-power-bewegt – ein Jubel der Fachwelt aus, als der Kleine Schlossplatz fertig war. Doch die Mini-City, die jung und trendig sein wollte, geriet rasch zum Pflegefall. Der Ort stand für Drogen, Schmutz und Tristesse. Eine neue Situation entstand, als die Königstraße 1978 zur Fußgängerzone wurde. Die Fahrspuren mit ihren beiden schwarzen Eingangslöchern blieb unter dem Betondeckel verwaist, der damit seinen Sinn verloren hatte. Denn der Verkehr war um einen Stock tiefergelegt.
Das Paradies der Nacht blieb sieben Jahre lang
Zur Leichtathletik-WM 1993 kam Professor Walter Belz, einer der drei Architekten des umstrittenen Betonplateaus, die Idee, eine 30 Meter breite Freitreppe von der Königstraße hoch zum Kleinen Schlossplatz zu bauen. Dies war ein Glücksfall für die Stadt. Dazu fand die Subkultur eine Nische. Wo gekündigte Läden leer standen, wo viele einen „Schandfleck“ sahen, setzte der drohende Abriss Kreativität und Fantasie frei. 1991 eröffnete die erste Kneipe 551. Den größten Erfolg hatte die Bar Pauls Boutique, die 1995 im ehemaligen Kartenhäusle gestartet ist und Tausende anlockte. Ein Paradies der Nacht, das knapp sieben Jahre währen sollte.
Angefangen hat alles damit, dass der spätere Wirt Klaus Morlock, später war er CEO einer Investment-AG in Zürich, mit einem Freund durch die Stadt lief auf der Suche nach einer Location. Auf dem Kleinen Schlossplatz legten sie eine Pause ein, auf der Treppe beim Il Mulino. Gegenüber war gerade das Kartenhäusle ausgezogen.
Die größte Caipirinha-Ladestation außerhalb Lateinamerikas
Was hat den Erfolg der größten Caipirinha-Ladestation außerhalb Lateinamerikas ausgemacht? „Ich empfand das Waschbetonareal als gruslig“, schreibt User Bernd Bitzer im Facebook-Forum des Stuttgart-Album, vielleicht war der Kontrast zur bunten Mode und lebendigen Menschen deshalb so interessant.“
Renate Morlock, die mit ihrem Mann Klaus Morlock zu den Gründern von Pauls Boutique zählt, erinnert sich in der Club-Challenge in der Coronakrise, wie groß der Ansturm schon in der ersten Nacht im Juli 1995 war – also vor genau 30 Jahren: „Weil wir, so naiv wie wir waren, von den Gästen überrannt wurden und mangels Wechselgeld und kalten Getränken nicht weiter wussten, haben wir nach zwei Stunden alles umsonst ausgegeben.“
Eine Facebook-Gruppe verbindet die Stammgäste von einst
In Pauls Boutique gab’s keinen Chef, der Paul hieß. Den Namen verdankt die Bar einer amerikanischen Hip-Hop-Band. Eine LP von den Beasty Boys hieß Pauls Boutique. DIe Bar ist einer von vielen Beweisen dafür, dass sich Stuttgart seinem provinziellen Image, das damals in der Republik weitverbreitet war, mit Power und Kreativität widersetzt hat. Wenn sich auswärtige Gäste wunderten, was auf dem Kleinen Schlossplatz abging, sagte man ihnen: „So ist Stuttgart halt, Stuttgart rockt!“
Hier trafen sich täglich die Skater
Im Facebook-Forum des Geschichtsprojekts Stuttgart-Album wird es vielen beim Anblick der Pauls-Boutique-Fotos warm ums Herz. „Wir Stuttgarter Skater haben uns dort täglich getroffen“, schreibt Dragan Cuvalo, „eine schöne, unvergessliche Zeit“. Alex Heda Dragan erwidert: „Stimmt, ihr seid da immer auf die Fresse gefallen beim Treppen-Runterschanzen.“ Claudia Nicole schildert eindrucksvoll, was damals los war: „Einmal dort den Barkeeper angemeckert, dass der Caipi zu schwach sei. Danach nen echt starken bekommen, meinen Geldbeutel verloren, mich mit zwei Typen angelegt und den Rest weiß ich nicht mehr. War trotzdem eine tolle Zeit!“
Der Kleine Schlossplatz in den 1990ern mit der Freitreppe Foto: Thomas Hörner Im März 2002 hat der Abriss begonnen
Im verflixten siebten Jahr war Schluss. Im März 2002 musste Pauls Boutique für immer schließen, um den Weg freizumachen für die Abrissbagger. Während die Stadt das Ende des Kapitels Kleiner Schlossplatz und den Beginn der Neugestaltung für das Kunstmuseum feiern wollte, hatten die Künstler und Gastronomen als Abschiedsparty an eine Art Beerdigungsveranstaltung gedacht. Man konnte sich nicht einigen. Der damalige OB Wolfgang Schuster hat am 11. März 2002 persönlich den ersten „Baggerbiss“ gesteuert, um sich als Held des neuen Museums feiern zu lassen.
Der Wunsch von Architekt Walter Belz, die aus Fertigteilen bestehende Freitreppe behutsam abzutragen, um Teile davon womöglich andernorts zu verwenden, hat sich nicht erfüllt. Das sei zu teuer, hieß es im Rathaus. Wie schade! Teile der Freitreppe und des Kartenhäusles, also auch von Pauls Boutique, hätten ganz dringend ins Stuttgart-Museum im Stadtpalais gehört! Denn dort ist Stuttgart in den 1990ern leichter, sympathischer und großstädtischer geworden.