Wenn eine Romanfigur ein Telegramm erhält und vier Pennys braucht, um vom Münzfernsprecher im Eingangsbereich aus zu telefonieren, dürfte eins klar sein: Dieses Buch spielt nicht in der Gegenwart.

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Celia Fremlins „Onkel Paul“ ist tatsächlich ein literarisches Kind seiner Zeit. Das englischsprachige Original „Uncle Paul“ erschien 1959. Eine deutsche Übersetzung brachte erst 40 Jahre später Diogenes heraus. Auf die gebundene Ausgabe von 1989 folgte 1991 das Taschenbuch. Dann passierte lange – nichts.

Celia Fremlin: „Onkel Paul“, 288 Seiten, 22 Euro, Dumont. Foto: DuMont Verlag

2023 unternahm der britische Verlag Faber & Faber mit der Wiederveröffentlichung den Versuch, diese meisterhafte Melange aus fein verästelten familiären Neurosen und handfestem Horror erneut ins Bewusstsein zu rücken. Nun zieht Dumont nach. Mit einer Neuübersetzung von Karl-Heinz Ebnet, der schon Mary Higgins Clark eine deutsche Stimme verlieh.

Im Mittelpunkt stehen drei sehr unterschiedliche Schwestern, die alle denselben Vater haben, aber zwei verschiedene Mütter. Mildred, die Älteste, leidet unter ihrer schwindenden Schönheit. Isabel, die Mittlere unter ihrer Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Und Meg, die Jüngste, unter dem Zwang, alles regeln zu wollen.

Der unsichtbare Vierte: jener Onkel Paul, der vor 15 Jahren mit Mildred verheiratet war, als er als Mörder entlarvt und verurteilt wurde. Ist er früher entlassen worden? Und jetzt auf der Suche nach Mildred? Oder ist er längst schon da? Äußerlich völlig verändert, in der Maske eines scheinbar vertrauten Mannes?

Im fiktiven englischen Seebad Seacliffe, wo die Schwestern zusammentreffen, wachsen Misstrauen, Neid und Angst. Alte Wunden brechen wieder auf, und verdrängte Erinnerungen kehren zurück.

Während der Grusel sich in einem abgelegenen Cottage und im Weg über die Klippen bei Nacht manifestiert, sorgt das Frauenbild der 1950er unterschwellig für Schauder: Ehe als Endziel, Kochen als Pflicht und die furchtbare Gewissheit, mit Anfang 40 schon (zu) alt zu sein.