Die wichtigsten Antikorruptionsbehörden des Landes drohen ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Die Politik untergräbt eine wirksame Korruptionsbekämpfung. Die westlichen Partner sind beunruhigt.

Wolodimir Selenski war im Wahlkampf 2019 mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Wolodimir Selenski war im Wahlkampf 2019 mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen.

Sean Gallup / Getty

Das ukrainische Parlament schwächt die wichtigsten Institutionen im Kampf gegen die Korruption im Land. Die Werchowna Rada hat am Dienstag mit 263 zu 13 Stimmen eine Gesetzesänderung verabschiedet, die das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (Nabu) und die zuständige Anklagebehörde (Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, Sapo) faktisch der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt.

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«Gefährdung der euroatlantischen Integration»

Was nach einer trockenen Zuständigkeitsfrage klingt, hat handfeste Auswirkungen. Der Generalstaatsanwalt kann künftig direkten Einfluss auf Korruptionsermittlungen nehmen. Der oberste Ankläger des Landes wird in der Ukraine vom Präsidenten ernannt. Der Amtsinhaber Ruslan Krawtschenko gilt als enger Vertrauter von Präsident Wolodimir Selenski und seinem mächtigen Stabschef Andri Jermak, der seit der jüngsten Regierungsumbildung über noch grösseren Einfluss verfügt.

Das Kiewer Büro von Transparency International spricht von einer direkten Bedrohung für die unabhängige Korruptionsbekämpfung in der Ukraine. Die beiden politisch unabhängigen Behörden, Nabu und Sapo, waren nach den Maidan-Protesten von 2014 ins Leben gerufen worden. Die bestehenden Institutionen hatten sich als unfähig erwiesen, Vorteilsnahme auf höchster Ebene, ein Grundübel der ukrainischen Politik, zu unterbinden.

Die Finanzierung wird durch westliche Partner Kiews unterstützt. Als wichtiges Element zur Stärkung des ukrainischen Rechtsstaats war die Existenz politisch unabhängiger Behörden zur Korruptionsbekämpfung eine Voraussetzung für Fortschritte bei der europäischen Integration des Landes, etwa bei der Aufhebung der Visapflicht für ukrainische Bürger im Schengenraum. Der Nabu-Direktor Semen Kriwonos sagte am Dienstag, der Parlamentsentscheid gefährde die euroatlantische Integration des Landes.

Laut dem Nabu-Direktor Semen Kriwonos gefährdet der Parlamentsentscheid vom Dienstag die euroatlantische Integration der Ukraine. Laut dem Nabu-Direktor Semen Kriwonos gefährdet der Parlamentsentscheid vom Dienstag die euroatlantische Integration der Ukraine.

Reuters

Grossrazzia bei der Antikorruptionsbehörde

Das Gesetz ist nur der jüngste Schlag in einer Reihe von Entwicklungen, die Kritiker der Regierung als gezielte Angriffe gegen die Korruptionsbekämpfung und Anzeichen zunehmend autoritärer Tendenzen sehen. Am Montag führte der Inlandgeheimdienst SBU eine Grossrazzia in Dutzenden von Räumlichkeiten durch, die in Zusammenhang mit Ermittlungen gegen fünfzehn Nabu-Mitarbeiter stand.

Der prominenteste Fall betrifft einen leitenden Mitarbeiter der Behörde in Dnipro. Der Mann steht im Verdacht, Geschäftsbeziehungen nach Russland und Verbindungen zum russischen Geheimdienst FSB zu unterhalten. Als Mittelsmann soll ein flüchtiger Abgeordneter einer mittlerweile verbotenen russlandfreundlichen Partei dienen, der noch während der Maidan-Zeit vom FSB angeworben worden sei.

Bei den meisten anderen Fällen handelte es sich laut dem Nabu jedoch um Verwicklungen von Mitarbeitern in Verkehrsunfälle. Ein Zusammenhang zum Landesverratvorwurf gebe es nicht. Die Razzien seien ohne Durchsuchungsbefehl ausgeführt worden und es sei zu Gewaltanwendung gekommen, teilt die Behörde in einer Stellungnahme mit. Zudem habe der SBU gleichzeitig eine Inspektion des Schutzes von Staatsgeheimnissen innerhalb des Nabu veranlasst. Dadurch könne sich der Geheimdienst Zugang zu Informationen über laufende Korruptionsermittlungen verschaffen.

Das Nationale Antikorruptionsbüro hat in der Vergangenheit gegen mehrere Persönlichkeiten sowohl in der Regierung wie auch beim Geheimdienst SBU Ermittlungen durchgeführt und sich damit einflussreiche Feinde geschaffen. Besonders hohe Wellen schlug unlängst die Untersuchung wegen Unregelmässigkeiten bei einem grossen Bauprojekt in Kiew.

Dabei wurden gegen den damaligen Vizeregierungschef und Minister für nationale Einheit, Olexi Tschernischow, Vorwürfe wegen Vorteilsnahme laut. Nach Bekanntwerden der Affäre kehrte Tschernischow vorübergehend nicht von einer Auslandsreise zurück. Regierungskritische Stimmen kolportieren, er habe einer Rückreise erst zugestimmt, als er von der Regierung eine Zusage erhalten habe, dass ihm der Fall nicht gefährlich werden könne. Im Zuge der Kabinettsumbildung vergangene Woche schied Tschernischow aus der Regierung aus.

Der ehemalige Vizeministerpräsident Olexi Tschernischow stand jüngst im Fokus einer Korruptionsaffäre. Der ehemalige Vizeministerpräsident Olexi Tschernischow stand jüngst im Fokus einer Korruptionsaffäre.

Sean Gallup / Getty

Anklage gegen Aktivisten

Anfang Juli gab es eine weitere Kontroverse um politische Einflussnahme auf die Korruptionsbekämpfung. Olexander Ziwinski, ein leitender Ermittler des Nabu, wurde von einer unabhängigen Kommission als neuer Direktor für die Behörde zur Untersuchung von Wirtschaftskriminalität vorgeschlagen. Die Regierung verweigerte jedoch seine Ernennung wegen angeblicher Verbindungen nach Russland. Als Nabu-Mitarbeiter musste sich Ziwinski jedoch während Jahren immer wieder Sicherheitsprüfungen des SBU unterziehen und hatte jeweils alle bestanden.

Auch zivilgesellschaftliche Aktivisten sind jüngst ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Fall von Witali Schabunin. Der Gründer und Vorsitzende des Zentrums für Korruptionsbekämpfung in Kiew, der vermutlich einflussreichsten Organisation in diesem Feld, wurde vor zwei Wochen wegen Verstössen gegen die Wehrpflicht angeklagt und vorübergehend festgenommen. Dabei wurde auch seine Wohnung durchsucht.

Der Antikorruptionsaktivist Witali Schabunin hat Präsident Selenski und seinen mächtigen Stabschef wiederholt kritisiert. Der Antikorruptionsaktivist Witali Schabunin hat Präsident Selenski und seinen mächtigen Stabschef wiederholt kritisiert.

Imago

Schabunin hatte sich unmittelbar nach dem russischen Überfall freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und war seither Soldat. Vorgeworfen wurde ihm jetzt, dass er unerlaubterweise seinen Posten verlassen und widerrechtlich Sold bezogen habe.

Die Mitbegründerin des Zentrums, Daria Kalenjuk, sprach gegenüber den Medien von absurden Vorwürfen und einem Rachefeldzug der Behörden. Die angesehene Tageszeitung «Kyiv Independent» schrieb, die Landesführung umgehe zunehmend demokratische Institutionen und höhle den Rechtsstaat aus. Hier geschehe kein Recht, ein Gegner werde kaltgestellt.

Straffreiheit für Korruption bei Waffengeschäften

Im Wahlkampf 2019 hatte sich Wolodimir Selenski mit Schabunin getroffen und mit ihm über das Korruptionsproblem im Land gesprochen. Der Aktivist hat immer wieder moniert, dass seither nicht viel geschehen sei. Er kritisierte dabei Selenski und seinen Stabschef Jermak offen.

Andri Jermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidenten, verfügt über grossen Einfluss im Land. Andri Jermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidenten, verfügt über grossen Einfluss im Land.

Ida Marie Odgaard / Reuters

Jüngst bezog das Zentrum für Korruptionsbekämpfung prominent Stellung gegen einen Gesetzesentwurf, der Straffreiheit für Vergehen vorsah, die im Zusammenhang mit Rüstungsprojekten begangen werden. Der Vorschlag wurde später abgeschwächt. Doch auch weiterhin ist vorgesehen, dass ohne die Zustimmung des Generalstaatsanwalts keine Ermittlungen eingeleitet werden können.

Im Verteidigungskampf gegen Russland werden Rüstungsgeschäfte in Milliardenhöhe abgeschlossen. Viele dieser Gelder kommen von westlichen Partnern der Ukraine. Verteidigungsminister Denis Schmihal bat am Treffen der sogenannten Ramstein-Gruppe am Montag allein für dieses Jahr um finanzielle Hilfen in Höhe von sechs Milliarden Dollar für ukrainische Rüstungskäufe.

Besorgte Reaktion aus der EU

Das Vorgehen gegen eine unabhängige Korruptionsermittlung löste bei den Partnern der Ukraine denn auch besorgte Reaktionen aus. Das Nabu und die Sapo seien von zentraler Bedeutung für die Reformagenda der Ukraine, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Dienstag. Eine Gegenmassnahme in Form von ausgesetzten Geldzahlungen an Kiew sei zu diesem Zeitpunkt aber nicht im Gespräch. Damit die Gesetzesänderung vom Dienstag rechtskräftig wird, muss sie noch von Präsident Selenski unterschrieben werden.