In Stuttgart gibt es keine Schickeria, aber eine äußerst lebendige Ausgehszene. Geliebt wird die Stadt, weil sie ehrlich und bodenständig ist, sich keine Blender erlaubt.

Rote Bete ist bedeutsamer als der rote Teppich – zumindest in Stuttgart und vor allem dann, wenn Meisterkoch Harald Wohlfahrt die Finger im Spiel hat. Rote Bete mit Ziegenfrischkäse, glasiertem Gemüse und Meerrettichschaum kam im Palazzo auf dem Wasen als vegetarischer, äußerst schmackhafter Hauptgang auf den Tisch. Die Premiere der Dinner-Show verlief entspannt. Kein Gedränge, kein Blitzlichtgewitter, kein Fotografengeschrei auf dem roten Teppich im ohnehin roten Spiegelpalast. In Wichtigtuer-Städten ist das ganz anders.

Bernd Zerbin, Sprecher der Hamburger Palazzo-Kette, reist gern nach Stuttgart – in eine Stadt, die ihm wohltuend unaufgeregt erscheint. Das Publikum schaue nicht auf sich selbst, sondern erfreue die Künstler wie sonst selten: „Die Leute feiern, flippen aus, goutieren, was gut ist – aber stellen sich nicht in den Mittelpunkt.“

In der Altstadt gibt es mehr Szene-Bars als Bordelle

Der Blick von außen ist immer spannend. Es gab Zeiten, da traf uns der Spott der Nation mit voller Breitseite. Nun aber setzt sich die Erkenntnis durch, dass unser Understatement eine wahre Stärke ist. In Stuttgart leben etwa 4000 Millionäre. Im Land hat nur Baden-Baden mehr. An Macht, Geld und wirtschaftlichem Einfluss fehlt es in Stuttgart nicht, aber die Überspanntheiten und Protzereien, wie sie etwa aus der Schickeria-Metropole München gemeldet werden, sind der Kesselkommune zum Glück weitgehend fremd geblieben.

Der VfB-Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle hinter der Theke der Weinstube Fröhlich im Leonhardsviertel. Foto: Dominik Türk

Eine Schickeria gibt es in Stuttgart nicht, eine äußerst lebendige Szene aber schon. Das kulturelle Angebot ist hier mit hoher Qualität so vielfältig wie in kaum einer anderen deutschen Metropole. Die Ausgehviertel sind Magnete, die Publikum zuhauf anziehen. Im Sommer werden die Gastro-Terrassen am Hans-im-Glück-Brunnen zum urbanen Wohnzimmer. Im Leonhardsviertel ersetzen neue Farben das Rotlicht des Sexgewerbes. Längst gibt es hier mehr Szene-Bars als Bordelle. Der Gemeinderat will die Laufhäuser ganz verbannen. In der Altstadt schenkt Alexander Wehrle, einer der Väter des Stuttgarter DFB-Pokalsiegs, schon mal am Tresen Bier aus. Der VfB-Vorstandschef, der aus seiner Homosexualität kein Geheimnis macht und mit seiner Offenheit jungen Spielern helfen will, sich zu outen, ist vor zwei Jahren Teilhaber der traditionsreichen Weinstube Fröhlich geworden. Wenige Schritte weiter versammelt sich bis früh morgens die soziokulturelle Vielfalt der Stadt – beim Brunnenwirt trifft sich alles, vom Vorstandschef bis zum Pförtner.

Mit einem feinen Gespür für Qualität

Im Hotel am Schlossgarten entstand ein Hotspot der Nacht, dem die Eigentümer ein halbes Jahr bis zum Umbau der Nobelherberge gewähren wollten. Doch das Studio Amore durfte letztlich zweieinhalb Jahren bleiben. Kreative Pioniere nutzen Brachflächen, um die Stadt noch attraktiver zu machen. Das Zapata auf dem Südmilchareal begann vor 30 Jahren damit – viele sind gefolgt.

Stuttgarts Ausgehszene lebt nicht von Angeberei, sondern von hoher Innovationsfreude. Sie ist geprägt vom überdurchschnittlichen Engagement für lokale Ereignisse und einem feinen Gespür für Qualität – ohne das Bedürfnis zu entwickeln, sich selbst zu inszenieren. Wenn Stage Entertainment zur Musicalpremiere lädt, wird mit „Reality-Stars“ Show auf dem roten Teppich gespielt. Medienvertreter bekommen Zettel mit Fotos der VIPs, weil diese halt so prominent sind, dass sie kaum einer kennt.

Der Witwer von Tina Turner schlich sich backstage in die Show

Als das Musical über das Leben von Tina Turner gestartet ist, schlich sich der wahre Promi backstage ins Theater. Erwin Bach, der Witwer der Rocklegende, stand nicht auf der Gästeliste, war aber da. Das Gespräch mit ihm war für den Reporter spannender, als selbstverliebte Selbstdarsteller zu betrachten, die angereist sind. An so einem Abend erfahren die Auswärtigen, wie einzigartig die Begeisterungsfähigkeit in Stuttgart ist.

Ob das traditionelle Weihnachtskonzert der Fantastischen Vier in der Schleyerhalle oder die Jazz-Open im Herzen der Stadt – die Stimmung, die man an so vielen Orten erlebt, lässt sich nur mit Superlativen beschreiben. Parov Stelar, ein Star des Electroswings, rief über den bebenden Schlossplatz: „Wär’ Stuttgart eine Frau, ich würd’ sie heiraten!“ Geliebt wird Stuttgart, weil die Stadt ehrlich und bodenständig ist, sich keine Blender erlaubt. Auf die Promiquote kommt es nicht an. Die Stuttgarter Ausgehviertel drängen sich nicht auf. Sie nehmen dich auf, so wie du bist.