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Eine jesidische Familie, die vor der Terrormiliz IS nach Brandenburg geflüchtet war, ist am Dienstag in den Irak abgeschoben worden. Sie hatte vor Gericht gegen ihren abgelehnten Asylbescheid geklagt – und am Tag der Abschiebung Recht bekommen.
- Familie mit vier Kindern lebte seit drei Jahren in Lychen, niemand wurde straffällig
- IS hatte 2014 etwa 5.000 Jesiden im Irak getötet
- Anwältin der Familie versucht nun, Rückholungsantrag zu stellen
Eine jesidische Familie, die vor der Terrormiliz IS nach Lychen in der Uckermark geflüchtet war, ist am Dienstag in den Irak abgeschoben worden. Das bestätigte das Brandenburger Innenministerium dem rbb auf Nachfrage am Mittwoch.
Die Familie mit vier minderjährigen Kindern hatte vor dem Verwaltungsgericht Potsdam gegen ihren abgelehnten Asylbescheid geklagt – und just an dem Tag der Abschiebung Recht bekommen. Der Beschluss, der dem rbb vorliegt, hebt eine frühere Entscheidung auf und stellt fest, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bestehen. Die Ablehnung sei nicht mehr eindeutig „offensichtlich unbegründet“, weil die Familie neue Dokumente und Informationen eingereicht habe.
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12-Jähriger: „Wir haben Angst“
Doch als die Entscheidung am Dienstag offiziell einging, saß die Familie bereits im Flieger Richtung Irak. Am Dienstagvormittag war vom Leipziger Flughafen eine Passagiermaschine gestartet und hatte 43 Menschen zurück in den Irak gebracht. Wie das Brandenburger Innenministerium auf rbb-Anfrage bestätigte, befanden sich sechs irakische Staatsangehörige aus Brandenburg an Bord des Abschiebeflugs von Leipzig nach Bagdad.
Der Abschiebeflug habe „ohne Zwischenfälle abgeschlossen werden“ können, erklärte Thüringens zuständige Justizministerin Beate Meißner (CDU): „Unsere Botschaft ist eindeutig: Wer kein Aufenthaltsrecht besitzt, muss unser Land wieder verlassen.“
Nach rbb-Informationen befindet sich die jesidische Familie jetzt in Bagdad. In einer Sprachnachricht an rbb-Reporterinnen sagte der 12-Jährige Maatz nach seiner Ankunft in Bagdad: „Wir haben Angst.“ In der Nacht auf Dienstag sei die Familie von Polizeibeamten aus dem Schlaf gerissen worden. „Sie haben laut ‚Polizei‘ geschrien und uns mit ihren Taschenlampen ins Gesicht gestrahlt“, erzählt Maatz.
Potsdamer Innenministerium sieht BAMF am Zug
Das Brandenburger Innenministerium teilte dem rbb mit, bei der abgeschobenen Familie handele es sich um „vollziehbar ausreisepflichtige irakische Staatsangehörige“. Kurz vor der Abschiebung habe man mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Rücksprache gehalten, ob es Gründe gebe, die Abschiebung nicht durchzuführen. „Dies wurde seitens des BAMF ausdrücklich verneint“, so das Innenministerium.
Zu einer möglichen Rückholung der Familie erklärte das Innenministerium: „Das BAMF ist dafür zuständig, den Gerichtsbeschluss einzuordnen und ggf. weitere Schritte zu veranlassen.“
Das Verwaltungsgericht Potsdam teilte mit, der Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 20. April 2023, wonach die Familie ausreisepflichtig ist, sei erst am Dienstag um 10:30 Uhr bei Gericht eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt war die Maschine aus Leipzig bereits in der Luft. Die Kammer sei davon ausgegangen, dass trotzdem noch ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe, weil die Betroffenen die Transitzone des Flughafens Bagdad noch nicht verlassen hatten.
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Kinder gingen in der Uckermark zur Schule
Die Familie lebte seit 2022 in Lychen, die Kinder im Alter von 5, 12, 15 und 17 Jahren gingen in der Uckermark in den Kindergarten und zur Schule. Die Familienmitglieder sind nicht straffällig geworden.
In der Schule, in die die Kinder der Familie gingen, herrscht Bestürzung über die plötzliche Abschiebung. „Am Montag haben wir die Familie noch zum Klassenfest in unserem Auto mitgenommen“, sagte Tanja Niclas, die Mutter eines Mitschülers von Maatz. Eine der Töchter von Familie Qassim hatte in den Sommerferien in ihrem Café gejobbt. „Die Familie war gut integriert und eine Bereicherung für den Ort. Wir verstehen nicht, warum sie jetzt abgeschoben wurden“, sagt sie.
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Brandenburg hat keinen Abschiebestopp für Jesiden
Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Minderheit, die von Islamisten als Teufelsanbeter gesehen werden. Im August 2014 drang die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in jesidische Dörfer ein und tötete etwa 5.000 Menschen. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt, vergewaltigt. Hunderttausende wurden vertrieben. Familie Qassim floh in die Berge von Sinjar, wo sie tagelang ohne Wasser und Nahrung ausharren musste und sah, wie der IS ihre Häuser zerstörte. So erzählen sie es im zweiteiligen rbb-Podcast „Deep Doku“.
Abschiebungen von Jesiden in den Irak sind auch in der Politik umstritten. Einige Bundesländer beschlossen 2024 einen vorläufigen Abschiebestopp für Jesiden. Brandenburg gehörte allerdings nicht dazu. „Die Brandenburger Ausländerbehörden wurden jedoch unabhängig davon angewiesen, Rückführungen von Personen, bei denen die Zugehörigkeit zur Volks- bzw. Religionsgemeinschaft der Jesiden bekannt ist, besonders sorgfältig zu prüfen“, schrieb das Landesinnenministerium auf Anfrage.
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BAMF hatte Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt
Warum die Behörden dennoch beschlossen haben, die Familie mit dieser Maßnahme abzuschieben, bleibt unklar. Die jesidische Herkunft der Familie war den Behörden bekannt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte den Asylantrag der Familie Anfang 2023 als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und eine Abschiebung angeordnet. Dagegen hatte die Familie geklagt und einen Eilantrag gestellt. Die mündliche Hauptverhandlung hatte im April dieses Jahres stattgefunden und es sollte jederzeit eine Entscheidung der Richterin kommen, hieß es vom Gericht.
Anwältin will Rückholungsantrag stellen
Nun kam die Abschiebung der Entscheidung vom Gericht zuvor. Das Gericht ordnete noch am selben Tag an, dass die Abschiebung nicht vollzogen werden darf, weil es ernsthafte Zweifel an der Entscheidung des BAMF gibt.
Ob die Abschiebung nun rechtlich als vollzogen gilt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wollte das Gericht mit Verweis auf fehlende Informationen nicht bewerten. Die Anwältin der Familie, Kareba Hagemann, versucht nun einen Rückholungsantrag bei den zuständigen Behörden zu stellen, da der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam zeitgleich zur Abschiebung eintraf.
Pro Asyl fordert Abschiebestopp für Jesiden
„Es handelt sich bei der Familie um Überlebende eines Völkermordes und ich sehe nach wie vor eine moralische Verpflichtung Deutschlands, die Überlebenden des Genozids zu schützen – insbesondere nach der Anerkennung des Völkermordes durch den deutschen Bundestag im Januar 2023“, sagte Hagemann.
„Menschen, die als Opfer eines Völkermords anerkannt wurden, müssen sich auf Schutz in Deutschland verlassen können und dürfen nicht in das Land des Völkermords abgeschoben werden“, sagte auch die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl am Mittwoch. Sie fordert einen bundesweiten Abschiebestopp für alle Jesiden. „Zudem ist eine Bleiberechtsregelung nötig, um humanitären Schutz zu ermöglichen“, hieß es von einer Sprecherin.
Der rbb-Podcast „Deep Doku“ hat die Geschichte rund um die jesidische Familie Qassim ausführlicher beleuchtet: Hier können Sie den Podcast anhören
Mit Informationen von Caroline Wölfle und Johanna Sagmeister
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.07.2025, 11 Uhr