DruckenTeilen
Die Stadt Wiesbaden setzt auf kreative Lösungen, um Betreuungsplätze in dicht bebauten Quartieren zu schaffen
Zwischen Bretterstapeln und Mörtelstaub steht sie noch immer: die „Ente“. Ein Citroën 2CV, grau, gut erhalten, Namensgeberin der zukünftigen Kita und zugleich Logo und Maskottchen. Im Hintergrund, auf der Baustelle, ertönt Baulärm. „Flotte Ente“ wird die Einrichtung heißen, die gerade in der Helenenstraße im Wiesbadener Westend entsteht – dort, wo einst Wagen repariert und verkauft wurden. Ende des Jahres sollen hier 82 Kinder vom ersten Geburtstag bis zum Schuleintritt betreut werden. Bis dahin ist noch viel zu tun.
Dass ein Autohaus zur Kindertagesstätte wird, ist nicht alltäglich, in Wiesbaden eine Premiere und dennoch keine Ausnahme. Denn um den Rechtsanspruch zu erfüllen, setzt die Stadt schon länger auch auf kreative Lösungen. Ein Bahnhof in Biebrich ist heute Kindertagesstätte, eine andere Einrichtung ist einem früheren Krankenhaus, eine weitere in einem ehemaligen Volksbad untergebracht.
Das Wiesbadener Westend ist eines der am dichtesten besiedelten Stadtteile Deutschlands. Das Viertel ist geprägt von Gründerzeitarchitektur und Hinterhofbauten – viel Stein, viel Asphalt. „Und wir bringen den Dschungel ins Westend“, sagt Aytug Gün, der die „Flotte Ente“ leiten wird. Er spielt auf das neue Klettergerüst mit Rutsche in Urwaldoptik an, das in der ehemaligen Werkstatthalle entstehen wird. Um sich das vorzustellen, ist Fantasie nötig – noch.
Bobbycar-Bahn auf dem Dach
Gerade wird geräumt und gestemmt, fallen Wände, werden Fenster ausgebaut. „Dort hinten“, sagt Gün und zeigt in eine Ecke der Werkstatthalle, die nach oben geöffnet und zu einem grünen Innenhof mit Spielgeräten wird: „Da kommt der Teich hin.“ Kein echter, nur Bodenfarbe, aber die Pflanzen werden echt sein. Und ginge es nach ihm, sagt er lachend, dürften auch Papageien durch den Kita-Innenhof fliegen. Im Westend fehlen Kita-Plätze – und Flächen, sie zu bauen. Als feststand, dass Familie Neu ihr Autohaus in der Helenenstraße aufgeben will, entwickelte sie gemeinsam mit Terminal for Kids (TfK) eine Idee und wandte sich damit an die Stadt. „Man muss Mut haben“, sagt Ingo Penner. Er ist bei Terminal for Kids für Projektleitung und Kooperationen zuständig. Der gemeinnützige Träger betreibt in Wiesbaden bereits zwei Einrichtungen und wird die „Flotte Ente“ führen. Mit außergewöhnlichen Standorten kennt sich das Team bestens aus – Terminal for Kids betreibt unter anderem eine Kita im ehemaligen Langener Forsthaus und im Squaire, dem markanten Bau am Frankfurter Flughafen.
Ein Kindergarten im Autohaus – das ist auch für Bauleiter Marc Stich kein alltäglicher Auftrag. Er hat schon eine Großdruckerei in ein Schulungszentrum verwandelt. Doch der Umbau zur Kita berührt ihn anders. Er erzählt, wie er sich vorstellt, dass die Kinder später an den extra tiefen Fenstern stehen und auf die von ihnen bepflanzten Hochbeete blicken. Die Umbauarbeiten haben im November begonnen. Das Highlight der Einrichtung: Wiesbadens erste Bobbycar-Strecke auf einem Flachdach. Die „Flotte Ente“ wird eine besondere Kita. Das hat sich schon herumgesprochen im Viertel: Die Nachfrage nach Plätzen ist groß.
Bahnhof und Stadtbad werden Kita
„Ein Neubau ist der einfachste Weg“, sagt Sozialdezernentin Patricia Becher (SPD). „Aber dafür fehlt in vielen Stadtteilen schlicht der Platz.“ Wo Wohngebiete neu geplant werden, entstehen auch Kitas und Schulen. Doch in bestehenden Vierteln wie dem Westend helfen nur kreative Lösungen. Die Stadt zeigt sich offen für unkonventionelle Immobilien – solange Auflagen und Vorgaben erfüllt werden.
Im einstigen Bahnhof, Landesdenkmal an der Biebricher Allee, 1907 erbaut, betreibt ein weiterer Träger, die Obermayr Krippe und Kindergarten gGmbH, die Kita „Kleiner Bahnhof“. Die städtische Kita Toni-Senderhaus ist in einem früheren Krankenhaus untergebracht. Schon 1999 ließ die Stadt das denkmalgeschützte frühere Stadtbad zu einer Kita umbauen.
Ungleiche Platzverteilung
Die Versorgungssituation für Kinder unter drei Jahren und im Elementarbereich von drei Jahren bis zum Schuleintritt variiert innerhalb der Stadt stark und liegt im Elementarbereich beispielsweise im Westend bei 42 Prozent, im ländlich geprägten Heßloch hingegen bei 137 Prozent – rechnerisch in der Gesamtstadt bei knapp über 93 Prozent. Zielmarke waren 90 Prozent. Als Ortsbezirke mit kritischer Versorgungslage gelten solche, in denen die Platzangebotsquote im Elementarbereich unter 80 Prozent und im U-3-Bereich unter 30 Prozent liegt. Das ist unter anderem in Frauenstein, Medenbach, Mainz-Kostheim und im Westend der Fall.
Die „Flotte Ente“ wird die Statistik leicht verbessern – aber vor allem wird sie den Stadtteil bereichern. Fünf Gruppenräume entstehen, ein Mint-Bereich, eine große Turnhalle, ein offenes Atelier und eine Kinderküche. Das Beispiel zeigt: Wenn Raum fehlt, braucht Stadtentwicklung vor allem Vorstellungskraft.
Ingo Penner erläutert Sozialdezernentin Patricia Becher die Pläne. Kita-Leiter Aytug Gün zeigt das Logo. © Michael Schick
Auch ein einstiges Bahnhofsgebäude ist heute Kita. © Michael Schick