Nahezu lautlos schweben die Karosserien durch die riesige Halle in der hochmodernen Mercedes-Fabrik in Sindelfingen. Immer wenn sie eine neue Station erreichen, bleiben sie stehen und werden mit weiteren Teilen bestückt: mit Scheiben, dem Cockpit, den Sitzen – und natürlich mit Fahrwerk, Getriebe und Motor. Bei dieser „Hochzeit“ werden die wichtigsten Komponenten zu einem Auto vereinigt.

Die meisten Luxusmodelle von Mercedes werden in Sindelfingen gebaut – doch Auslastung und Absatz lassen zu wünschen übrig. Foto: Stefanie Schlecht

In jüngerer Zeit allerdings wird in dieser Factory 56 viel seltener „geheiratet“ als früher. Die täglichen Schichten wurden gekürzt, weil sich die größten Autos nicht mehr so gut verkaufen wie bisher. Dabei geht es um die Fahrzeuge, die dem Autobauer über Jahrzehnte satte Gewinne und der Region Stuttgart einen weit überdurchschnittlichen Wohlstand verschafft haben. Vor allem vollelektrische Luxusautos, auf die Mercedes und andere deutsche Premium-Autohersteller in den vergangenen Jahren gesetzt haben, finden kaum Käufer. Solche Modelle werden – im Gegensatz zur übrigen Modellpalette – zu einem guten Teil nur in der Region Stuttgart gebaut und von hier aus in die ganze Welt verkauft.

Die herausragende Stellung der Region als Fertigungsstandort von höchster Qualität ist einzigartig. Doch nun zeigt sich die Kehrseite: Die Region ist auch besonders anfällig, falls dieses kleine, hoch gewinnträchtige Segment schwächelt. Auch der vollelektrische Porsche Taycan, der ebenfalls in einer neuen, hochmodernen Fabrik im nur 25 Kilometer entfernten Zuffenhausen gebaut wird, schwächelt massiv, nachdem seine Absatzzahlen jahrelang mit der Beschleunigung seines Höchstleistungsmotors hatten mithalten können.

Region ist Krise gewohnt

Dabei ist die Region in Sachen Krise einiges gewohnt. Anfang der Neunziger stand Porsche kurz vor der Pleite. Auch Mercedes baute damals in gewaltigem Ausmaß Stellen ab. So ging es immer wieder – und immer wieder erholten sich die Autobauer und ihre Zulieferer. Im Zuge der Finanzkrise ab 2008 wurde die Fertigung im Mercedes-Werk Sindelfingen wochenlang stillgelegt; auch die Pandemie sorgte ab 2020 für Einbrüche. Doch schon kurze Zeit später fuhren die Hersteller erneut Rekordgewinne ein. Eine Krise, darauf hatte sich das kollektive Gedächtnis eingerichtet, ist das Startloch, von dem aus man zum nächsten Boom durchstartet.

Auch jetzt ist wieder Krise angesagt – doch ist sie auch diesmal nur eine Phase im ewigen Auf und Ab? Oder ist der heutige Abschwung von einer anderen Dimension? Klar ist: Manche der Stärken, denen die Region ihre Wirtschaftskraft zu verdanken hat, zeigen sich heute eher als Belastung. Die Verbrennungstechnologie, bei der den Ingenieuren der Region Stuttgart kaum jemand etwas vormachen kann, hat ihren Zenit erkennbar überschritten – und beim E-Auto geben global andere den Ton an.

Industrie verlagert nicht mehr lautlos

Nicht nur beim Wettbewerb der Technologien, auch bei dem der Standorte verschiebt sich einiges. Donald Trumps Zollpolitik hat den Überlegungen der Autobauer, verstärkt in den USA zu produzieren, neuen Schub gegeben. Auch Exporte nach China werden angesichts des massiven Preiskampfs immer unrentabler. Selbst innerhalb der EU entbrennt inzwischen ein heftiger Standortwettbewerb.

„Go East“, sagte im Februar Mercedes-Finanzchef Harald Wilhelm und erklärte stolz, dass man nun das Werk im ungarischen Kecskemét massiv erweitert – zulasten des Standorts Deutschland. Früher wurden solche Entscheidungen heimlich gefällt – heute erklärt der Vorstand offensiv, dass in Ungarn die Faktorkosten – gemeint sind vor allem die Löhne – um 70 Prozent niedriger sind als in Deutschland. Und auch über die USA gerät Konzernchef Ola Källenius geradezu ins Schwärmen. Es sei „unglaublich“, welche Anreize die Politik für Investitionen biete. Zum „Go East“ kommt das „Go West“.

Die ökonomische Monokultur, die sich in der Region entwickelt hat, erweist sich angesichts der globalen Verwerfungen als anfällig gegenüber all den Veränderungen. Experten raten daher, die Kompetenzen der Region als Nährboden für Unternehmen zu nutzen, die ihre gewachsenen Fähigkeiten dann auch in anderen Branchen ausspielen können.

Kompetenz für andere Branchen

An einem Industriestandort wie der Region Stuttgart werden schließlich nicht nur Autos produziert, sondern auch Maschinen und Anlagen, die auch für ganz andere Zwecke genutzt werden können: für erneuerbare Energien etwa oder für die Herstellung von Wasserstoff, vielleicht auch für die Aufbereitung von Trinkwasser, die angesichts der global immer schwierigeren Verfügbarkeit von Wasser weiter an Bedeutung gewinnen dürfte. Da sich auch im Anlagenbau Hard- und Software kaum noch trennen lassen, ist die produktnahe Informatik ebenfalls ein potenzieller Wachstumsfaktor. Auch die Kreativwirtschaft und die Gesundheitswirtschaft bieten nach Expertenansicht jenseits des Fahrzeugbaus Potenzial für die Region.

Monokultur birgt Risiken

Einer der Experten zieht eine Analogie zur Forstwirtschaft: Ein Wald, der von einer Baumsorte dominiert wird, ist hoch anfällig gegen Schädlinge und andere ungünstige Einflüsse. Ein Mischwald ist zwar nicht immun, aber viel widerstandsfähiger. Denn die Chance ist groß, dass zumindest ein Teil der Bäume den widrigen Einflüssen standhält oder sogar von ihnen profitieren kann. Genau diese Fähigkeit, Veränderungen standzuhalten und von ihnen zu profitieren, ist das, was die Region braucht.

Dass ihr Schicksal noch sehr lange mit dem der Autobranche verbunden sein wird, lässt sich aber nicht einmal durch eine noch so kühne Wirtschaftspolitik ändern. Das Auto wird die DNA der Region Stuttgart noch lange prägen.