Unscheinbar ist der schmale Eingang zur McDonald’s-Filiale an der Frankfurter Hauptwache. Wie eingequetscht liegt er in der Einkaufsgegend zwischen einem Modegeschäft und einem Laden für Fruchtgummi. Davor stehen oft zahlreiche Fahrräder verschiedener Lieferunternehmen, mit Lieferrucksäcken in Grün, Blau oder Orange. Am Donnerstagabend vergangener Woche war vor der Filiale ein riesiges Transparent aufgespannt. Die Aufschrift: »Lieferstreik«.
Kuriere von Lieferando – die mit den orangenen Rucksäcken – aus Frankfurt am Main, Offenbach, Darmstadt und Mainz streikten an dem Tag bei Sonnenschein und lauter Musik in der Frankfurter Innenstadt. »Streikerando« stand auf ihren schwarzen Westen, die ein zum Totenkopf stilisiertes Lieferando-Logo zierte. Der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, kam vorbei und drückte den Streikenden seine Solidarität aus. Deren Parole »Liefer? Streik!« war weit zu hören.
Streik in Frankfurt
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hatte zum Streik bei Lieferando aufgerufen. Sie fordert einen tariflichen Stundenlohn von 15 Euro für alle Kuriere sowie Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit. Am 11. und 12. Juli gingen mit einem 36-Stunden-Ausstand, dem längsten in der Geschichte Lieferandos, die bundesweiten Warnstreiks los.
Derzeit verdienen die Fahrer bei Lieferando nur den gesetzlichen Mindestlohn plus einen Bonus für besonders viele Lieferungen innerhalb eines Monats. Die Rider, so nennen sich die Kuriere selbst, sind teils mit dem Auto, teils mit Motorrollern, teils mit dem Fahrrad unterwegs. »Unsere Mitglieder brauchen mehr Lohn, um von ihrer Arbeit überhaupt leben zu können«, sagte Mark Baumeister, Referatsleiter der NGG für das Gastgewerbe, am Rande der Streikkundgebung der Jungle World. Lieferando hat auf eine Anfrage der Jungle World nicht reagiert.
»Heute Morgen dachte ich noch wir kämpfen für einen Tarifvertrag. Jetzt kämpfen wir auch für den Erhalt der Arbeitsplätze.« Anna Langensiepen, Gewerkschaftssekretärin bei der NGG
Das Unternehmen ist der deutsche Marktführer unter den plattformbasierten Essenslieferdiensten. Es gehört zum internationalen Konzern Just Eat Takeaway, der in 17 Ländern tätig ist. In erster Linie ist Lieferando ein Online-Marktplatz: Über 80 Prozent der Bestellungen werden dem Unternehmen zufolge von den Restaurants selbst ausgeliefert. Für die Vermittlung über seine Plattform kassiert Lieferando nach eigenen Angaben 14 Prozent Kommission von den Restaurants. Wenn Lieferando außerdem die Lieferung übernimmt, werden 30 Prozent Kommission fällig. Die Löhne und Arbeitsbedingungen in diesem Liefersegment sind sehr schlecht.
Pinar Mahmood, die Betriebsratsvorsitzende bei Lieferando in Frankfurt und Offenbach, sagte der Jungle World: »Es geht in erster Linie ums Geld. Aber mir ist auch wichtig, dass meine Kollegen auf der Straße sicher sind.« Sie erklärt, dass Lieferando von den Fahrern verlangt, ihr privates Rad, Auto und Smartphone zu nutzen. Die Kompensation, die dafür pro Kilometer gezahlt wird, reiche aber nicht aus. Wenn ihre Kollegen einen Unfall oder eine Panne haben, wird ihnen kein Ersatz angeboten und ihre ausfallenden Schichten werden nicht bezahlt, berichtet Mahmood weiter.
Seit Februar 2023 kämpft die NGG für einen Tarifvertrag für die rund 6.000 Rider von Lieferando, doch das Unternehmen weigert sich, darüber auch nur zu verhandeln. »Lieferando versucht, den Konflikt auszusitzen«, sagt Baumeister der Jungle World.
Aufbau der »Schattenflotte«
Eine Stunde bevor die Streikkundgebung in Frankfurt begann, hatte Lieferando öffentlich gemacht, bis Ende des Jahres 2.000 Beschäftigte entlassen zu wollen. Anna Langensiepen, Gewerkschaftssekretärin der NGG in der Region Rhein-Main, wurde während der Streikvorbereitung von der Nachricht überrascht. »Heute Morgen dachte ich noch, wir kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag«, sagte sie der Jungle World am Rande des Streiks. »Das tun wir natürlich immer noch. Aber jetzt kämpfen wir auch für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Lieferando.«
Die NGG wirft dem Unternehmen vor, eine »Schattenflotte« aufbauen zu wollen. Bisher sind bei Lieferando fast alle Rider fest angestellt. Das ist die Ausnahme in der Lieferbranche. Die Konkurrenten Wolt und Uber Eats beschäftigen die meisten ihrer Rider nicht selbst, sondern leihen sie von Subunternehmen aus, sogenannten »Flottenpartnern«. Lieferando geht nun mit den geplanten Entlassungen in dieselbe Richtung. Das Unternehmen kündigte an, die Zusammenarbeit mit Subunternehmern auszubauen.
»Gegen den Aufbau der ›Schattenflotte‹ werden wir uns mit aller Kraft wehren«, sagte Langensiepen. »Die Belegschaft setzt heute ein starkes Zeichen, dass sie das nicht mit sich machen lässt.«
Der NGG zufolge hat Lieferando in den vergangenen Monaten allein in Berlin rund 500 feste Arbeitsplätze abgebaut und durch Rider ersetzt, die für den Flottenpartner Fleetlery arbeiten. Teils seien entlassene Beschäftigte sogar von Subunternehmen kontaktiert worden, die ihnen angeboten hätten, weiter für Lieferando Essen auszuliefern, aber zu deutlich schlechteren Konditionen. Bei Fleetlery gibt es dem RBB zufolge in der Regel keine Festanstellungen und damit auch keinen Mindestlohn. Stattdessen werde pro Lieferung gezahlt und Fleetlery fordere für jeden Auftrag eine Vermittlungsgebühr.
Die Konkurrenz nutzt Subunternehmen
Die Folgen des Subunternehmertums in der Essenslieferbranche kann man bei den Lieferando-Konkurrenten Wolt und Uber Eats beobachten, die schon länger auf »Flottenpartner« zurückgreifen. Das internationale Forschungsprojekt Fairwork bewertet regelmäßig die Arbeitsbedingungen in Plattformunternehmen. Dessen letztem Bericht von 2025 ist zu entnehmen, dass manche Rider ohne formalen Arbeitsvertrag oder mit einer »Attrappe« eines Arbeitsvertrags arbeiten, dessen Vereinbarungen in der Praxis nicht eingehalten werden.
So sei in den Verträgen beispielsweise ein Stundenlohn festgelegt, der aber nicht zur Auszahlung komme. Denn in der Regel werden die Fahrer pro Lieferung bezahlt – das bringt mit sich, dass sie für Wartezeiten nicht entlohnt werden, so dass viele von ihnen tatsächlich weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen.
Manche Fahrer erhalten Fairwork zufolge keine oder falsche Lohnabrechnungen, oft müssten sie monatelang auf ausstehenden Lohn warten. Viele müssen ihre Krankenversicherung selbst tragen, sie verdienen nichts, wenn sie krank werden, und erhalten keinen Urlaub. In einigen Fällen müssen die Fahrer bis zu 35 Prozent ihres Einkommens als Provision an die Flottenpartner abtreten. Einige der für den Bericht befragten Arbeiter:innen mussten eine Beitrittsgebühr von 500 Euro an das Subunternehmen zahlen, nur um über dessen App Zugang zu Aufträgen zu erhalten. Durch die Flottenpartner können sich die Plattformunternehmen der Verantwortung für die Arbeitsbedingungen der Rider entziehen.
Wolt widerspricht den Vorwürfen auf Anfrage der Jungle World. Das Unternehmen beteuert, nur mit Flottenpartnern zusammenzuarbeiten, die »hohe Standards einhalten und verantwortungsvoll mit ihren Mitarbeitenden umgehen«. Wolt verweist auf umfassende und regelmäßige Kontrollen seiner Dienstleister, in denen unter anderem Arbeitserlaubnisse und die Einhaltung des Mindestlohns geprüft würden. Uber Eats ließ eine Anfrage bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.
Mark Baumeister warnt im Gespräch mit der Jungle World: » Lieferando gibt mit dem Ausbau seiner ›Schattenflotte‹ die Verantwortung ab.« Die Lieferando-Rider und die NGG gehen davon aus, dass es dann Arbeitsrechtsverletzungen bei den Subunternehmern geben wird. Lieferando verteidigte den Schritt damit, dass die Nutzung von Subunternehmen »in der Branche üblicher Standard« sei.
Die EU-Plattformrichtlinie
Bei der Streikkundgebung skandierten die Lieferando-Rider: »Wir brauchen Bas, Bas, Bas – Stoppt die Schattenflotte!« Gemeint war die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), deren Ministerium die Arbeitsbedingungen im Liefersektor auf politischem Wege verbessern könnte. Ende 2024 hat die EU die sogenannte Plattformrichtlinie beschlossen, die bis Ende 2026 in nationales Recht überführt werden muss. Die Richtlinie legt fest, dass beim Einsatz von Subunternehmen die Beschäftigten »denselben Schutz« genießen, wie wenn sie beim beauftragenden Unternehmen selbst eingestellt wären. Außerdem sollen die entsprechenden Organe der Mitgliedstaaten anhand der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse der Leute und nicht anhand ihrer Verträge beurteilen, ob Plattformarbeiter abhängig Beschäftigte oder Selbständige sind. Wer seine Aufträge von einer App erhält und dabei ständig überwacht wird, würde erst mal als angestellt gelten – die Unternehmen müssten das Gegenteil beweisen.
Die EU-Plattformrichtlinie könnte also Ridern dabei helfen, ihre Rechte gegen die Lieferunternehmen einzuklagen. »Wie hilfreich sie sein wird, wird von ihrer konkreten Umsetzung abhängen – etwa davon, ob Plattformunternehmen für Verfehlungen ihrer Subunternehmen haftbar gemacht werden«, meint Johannes Specht vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Gespräch mit der Jungle World. Ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales soll im Laufe dieses Jahres vorgelegt werden. Baumeister von der NGG kündigt bereits an: »Den Druck auf die Politik, der systematischen Arbeitsrechtsverletzung Einhalt zu gebieten, werden wir weiter erhöhen.«
Tarifvertrag
So wichtig gesetzliche Regeln wären – viele Missstände ließen sich schon jetzt durch Tarifverträge beheben. »Branchenweite Standards zu Löhnen, Zuschlägen, Urlaub und vielem mehr könnte man durchsetzen, indem ein Unternehmen einen Tarifvertrag abschließt, der dann von der Politik für allgemeinverbindlich erklärt wird«, so Specht. »Er würde für die ganze Branche gelten und dem Unterbietungswettbewerb der Plattformen wäre ein Riegel vorgeschoben.«
Lieferando könnte hier Vorreiter sein. Das Unternehmen weigert sich aber nach wie vor, überhaupt mit der NGG zu verhandeln. Die Gewerkschaft hat angekündigt, den Druck mit weiteren Streiks und Aktionen aufrechtzuerhalten. Anna Langensiepen von der NGG sagt: »Es braucht öffentlichen Druck, den Lieferando spürt.«